Legenden der Traumzeit Roman
mich um meine Pflichten kümmern. Ich überlasse es Ihnen, unseren Besucher zu begrüßen.«
»Besucher?« Sie drehte sich um und wurde nervös. »Gerhardt,Sie erwischen mich unvorbereitet.« Fahrig fuhr sie sich mit den Fingern durchs Haar. Sie sah vermutlich schrecklich aus.
»Sie sehen wunderbar aus«, sagte er und stieg vom Pferd. Seine Kleidung war makellos wie immer, seine glänzenden Stiefel nur leicht mit Staub bedeckt. Er begrüßte sie mit einem vollendeten Handkuss. »Ich muss mich für meinen Überfall entschuldigen, aber Mutter hat mich geschickt, Sie zu fragen …« Er verstummte.
Jessie runzelte die Stirn. »Worum geht es, Gerhardt?«
»Ich kann meine Mutter nicht länger als Vorwand benutzen«, sagte er gereizt. »Ich bin ein erwachsener Mann, und es wird Zeit, dass ich für mich selbst spreche.« Er holte tief Luft. »Miss Searle, Jessie, wollen Sie mir die Ehre erweisen, mich am Sonntagnachmittag auf einer Kutschfahrt zu begleiten? Wir werden eine Anstandsdame bei uns haben«, fügte er hastig hinzu. »Mrs. Blake ist einverstanden, uns zu begleiten.«
Jessie wurde klar, dass dies der Augenblick war, in dem ihr Leben sich verändern könnte – dass ihre Liebe zu Abel in Wirklichkeit die romantische Grille eines naiven Mädchens war und sie die Wunschvorstellung nicht länger aufrechterhalten konnte. Sie knickste. »Ich würde mich freuen«, murmelte sie.
Belohnt wurde sie mit einem Lächeln, bei dem das Blau seiner Augen noch intensiver wurde, und ihr fiel wieder einmal auf, wie gut er aussah.
Elf
Kernow House, Watsons Bay, Februar 1852
H arry wappnete sich, bevor er ins Zimmer ging, denn die Hilflosigkeit seines Bruders legte sich erdrückend auf ihn. Die Fensterläden waren vor der sommerlichen Helligkeit geschlossen, die einzige Beleuchtung war eine flackernde Laterne. Oliver saß zusammengesackt im Rollstuhl und starrte in einen leeren Kamin. Trotz der brütenden Hitze lag eine Decke über seinen nutzlosen Beinen, und ein paar dünne graue Haarsträhnen hatten sich unter der reich bestickten ägyptischen Mütze gelöst. Seine bleiche Gesichtshaut, das verzerrte Gesicht und sein geringerer Körperumfang betonten seine Zerbrechlichkeit.
Harry entließ die Krankenschwester, die seinem Bruder vorgelesen hatte, und stellte sich mit sinkendem Mut neben den Kamin. Olivers Gesundheit blieb eine ständige Sorge; seit dem zweiten Anfall hatte er die Gewalt über alle Gliedmaßen verloren und war auf dem linken Auge blind. Hier wurde ein gestandener Mann über längere Zeit ausgezehrt und zerstört. Harry fragte sich, ob sein Bruder den gesundheitlichen Verfall überhaupt mitbekam, denn der Funke seiner Intelligenz war fast völlig erloschen. Oliver schien den Kampf jedenfalls aufgegeben zu haben. Der Arzt hatte jedoch betont, Oliver könne hören und begreifen, und das war der Grund, aus dem die Krankenschwester ihm vorlas und Harry eine einseitige Unterhaltung begann.
»Ich komme gerade aus Sydney Town«, erklärte er. »Die Lage hat sich etwas beruhigt, nachdem die Angestellten, die Hausdiener und die eher zurückhaltenden Männer erkannt haben, dassdas Leben eines Goldgräbers nichts für sie ist. Sie überlassen die Goldfelder Abenteurern und Muskelprotzen und kehren in hellen Scharen zurück. Für die Farmer ist das eine große Erleichterung, denn jetzt können sie mit der diesjährigen Schafschur beginnen. Und man hofft, dass genügend Arbeitskräfte vorhanden sein werden, um im März die Ernte einzubringen.«
Olivers schlaffes, blindes Auge füllte sich mit Tränen, die Harry mit einem Taschentuch abwischte. »Die Suche nach Gold ist anscheinend Glückssache, und alle, die davon ausgehen, es mit geringem Aufwand zu finden, werden in der Regel enttäuscht. Nur der gut ausgerüstete Mann, der bereit ist, monatelang wie ein Hund zu schuften, hat Erfolg.«
Oliver schwieg, und Harry zog einen Stuhl heran. »Der Wahnsinn geht jedoch weiter, und sogar die seriöseren unter den Matronen von Sydney stolzieren in Seidenkleidern und kunstvollen Hauben herum. Sie sind ein lohnender Anblick, aber noch lange nicht so erstaunlich wie die mit Gold gezäumten Pferde und die Männer, die in den Gasthäusern sitzen, ein Glas Gin in der einen, ein Bündel Bares in der anderen Hand, und eine Runde für alle spendieren.« Er lächelte. »Es gibt noch immer geschlossene Läden und Büros, aber ich glaube, Melbourne leidet mehr. Es heißt, die Stadt sei fast menschenleer nach dem Sturm auf Ballarat und
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