Legenden der Traumzeit Roman
Sie nehmen nicht am gesellschaftlichen Leben teil.« Ihm fiel das entschlossene Glitzern in ihren Augen auf, und ihm platzte der Kragen. »Mir wäre lieber, wenn du dich darauf konzentrieren würdest, was ich jetzt sagen werde, Amelia, denn es ist wichtig.«
Amelia schaute ihn ob seiner Barschheit verblüfft an, doch auch diesmal entschuldigte er sich nicht, denn Amelia musste ihm unbedingt zuhören. »Die Briefe, die Ann an Susan schrieb, waren die übliche Mischung aus Dorfklatsch, Schilderungen ihres Alltagslebens und gesellschaftlichen Neuigkeiten, doch in diesem scheinbar unschuldigen Geschwätz habe ich etwas entdeckt.«
Amelia beugte sich vor. Nachdem sie ihre Pikiertheit überwunden hatte, besaß er ihre volle Aufmerksamkeit.
»Mir ist ein Muster aufgefallen. Es begann mit der Erwähnung eines kleinen Kindes, das bei einem Ehepaar mittleren Alters in Pflege war. Im Lauf der Jahre wurde dieses Kind in Anns Korrespondenz regelmäßig erwähnt. Es sind vielleicht stets nur ein oder zwei Zeilen gewesen, die einem flüchtigen Leser nicht aufgefallen wären, doch da alle Briefe in meinem Besitz waren, erkannte ich allmählich, dass das Leben dieses Kindes von der Wiege bis zur Heirat sorgfältig dokumentiert wurde.«
»Fast wie eine Verschlüsselung«, flüsterte Amelia.
Harry nickte. »Mein Verdacht erhärtete sich, und als ich eine hastig hingekritzelte Warnung von Ann an Susan aus dem Jahre 1804 las, wusste ich, dass ich auf der richtigen Fährte war. Die Bestätigung kam 1832. Der Brief war Jahre zuvor geschrieben worden, und der Anwalt hatte den Auftrag, ihn erst nach dem Tod von Susan und Ezra auszuliefern. George, ihr einziger überlebender Sohn, war der Empfänger.«
»Was stand darin?« Ihre weiten Augen sprachen Bände. Sie war hingerissen.
»Ich werde ihn dir zu lesen geben, aber du musst ihn mir zurückgeben, und, Amelia, darüber darf außerhalb dieses Zimmers niemals gesprochen werden.« Er sah sie streng an und hoffte, die Warnung würde reichen, ihre geschwätzige Zunge im Zaum zu halten. »Das ist mein Ernst, Amelia«, sagte er finster. »Nicht ein Wort! Denn das bezieht sich nicht nur auf die Collinsons, sondern auch auf die Cadwalladers.« Er behielt den grimmigen Blick bei, als sie schmollte. »Versprichst du mir das?«
Sie nickte und seufzte ergeben. »Ich verspreche es dir.«
Zufrieden fuhr er fort: »Georges Mutter Susan hatte eine Affäre, aus der ein Kind stammt, Rose, von dem ihr Liebhaber aber nichts wusste. Sie vertraute sich Ann an, bevor sie beide mit der Ersten Flotte nach Australien segelten. Ann hatte Rose bei einem Ehepaar in Somerset untergebracht, und als sie nach England zurückkehrte, hielt sie Susan über die Fortschritte des Kindes auf dem Laufenden.«
»Wer war der Vater?«
»Mein Großvater Jonathan Cadwallader.«
Amelia wurde bleich, und ein erstickter Laut drang aus Olivers Kehle.
»Du verstehst es also?« Harry hockte sich vor seinen Bruder, erfreut über diese Wendung. »Oh, Ollie, ich wünschte, du könntest sprechen! Ich bräuchte dich so sehr. Du könntest mir raten, was ich tun soll.«
»Tun?« Amelia schaute ihn entsetzt an. »Das Kind ist inzwischen wahrscheinlich längst tot, und im Übrigen ist sie … ist sie … unehelich .« Das letzte Wort war nur ein Wispern.
Harry hatte Schwierigkeiten, seine Ungeduld im Zaum zu halten. Er wandte sich wieder an Oliver. »Hat George dir irgendetwas gesagt?«
Die Spur einer Veränderung war in dem einen klaren Auge auszumachen, doch Harry wurde klar, selbst wenn George sich ihm anvertraut hätte, wäre dieses Geheimnis für immer in Olivers Behinderung verloren. »Spielt keine Rolle«, besänftigte er ihn. »George war augenscheinlich so interessiert, dass er Nachforschungen betrieben hat, und es ist ihm gelungen, ein Kirchenregister auszugraben, in dem die Geburt von Roses Tochter Fanny verzeichnet ist. Ich habe es in der Truhe gefunden. Sobald ich nach England zurückkehre, habe ich vor, die Suche fortzusetzen.«
»Du willst dich doch wohl nicht mit dieser Person bekannt machen?« Amelia hielt die Nase hoch. »Schließlich wird sie kaum deiner Klasse angehören, und Leute ihresgleichen schrecken vor Bestechung nicht zurück. Du musst an deine Position denken, Harry! Überlege es dir reiflich, bevor du etwas Törichtes unternimmst.«
Er betrachtete sie kalt. »Rose war die Halbschwester meines Vaters und meines Stiefvaters und daher eine Cadwallader – es ist meine Pflicht nachzuforschen, was aus ihrer
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