Legenden der Traumzeit Roman
die hungerleidenden Gundungurra umgebracht.
Kumali war das Herz schwer. Zwischen den gubbas und den wenigen Überlebenden ihres Stammes war es zum Krieg gekommen, doch der Diebstahl von Vieh, Schafen und Getreide wurde mit dem Strang – oder einem schlimmeren Tod – bestraft durch die Schafzüchter und ihre schwarzen Viehzüchter, die sich offenbar einen Spaß daraus machten, selbst die Jüngsten ihres Stammes abzuschlachten. Wie ihr Großvater mütterlicherseits vorhergesagt hatte, waren die Feindseligkeiten der Stämme untereinander von den Weißen dazu benutzt worden, das Land zu säubern, und die Möglichkeiten, die ihrem Volk blieben, waren dürftig: frei zu bleiben, zu hungern und gejagt zu werden oder mit den Weißen zu leben und ihnen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein.
Kumali verzog das Gesicht. Im Moment war sie frei. Sie war viele Meilen gelaufen, um dem Boss zu entkommen, der sie geschlagen und in sein Bett gezwungen hatte, doch sie wusste aus Erfahrung, dass er einen seiner schwarzen Fährtensucher ausschicken würde, um sie zu finden und in Ketten zu seiner Farm zurückzubringen, denn sie war nicht zum ersten Mal fortgelaufen.
Sobald die Reisenden sich im grauen Regenschleier verloren, tauchte Kumali zwischen den Bäumen auf. Der Fluss war reißend und tief, und obwohl sie eine gute Schwimmerin war, wollte sie ihn nur ungern durchqueren. Die Ältesten hatten ihr von Mirringan und Gurrangatch erzählt, und sie fürchtete, dass Gurrangatch, halb Fisch, halb Reptil, vielleicht von seiner Höhle im Wingeecaribbee River in dieses Wasser geschwemmt worden war und jetzt in den Tiefen lauerte, um sie zu fangen.
Sie zögerte und zupfte mit den Fingern an dem dünnen Baumwollkleid, dass die Missus ihr geschenkt hatte. Es war ihr einziger Schutz vor der Kälte, und es klebte nass an ihr wie eine zweite Haut. Kumali blinzelte und starrte ins Wasser. Gurrangatch war noch immer wütend, weil er von Mirringan, der Tigerkatze, gejagt worden war, und Kumali schauderte, denn sie glaubte, etwas Silbernes im dahinschießenden Wasser aufblitzen zu sehen. Sie kaute auf ihrer Unterlippe und erwog ihre Möglichkeiten.
Ihr Leben hatte in einer Missionsstation begonnen, in der Initiationsriten und die Unterweisung durch die Ältesten heimlich vonstatten gehen mussten – der Pfarrer hatte es verboten. Sie war ohne großes Verständnis für die alten Traditionen aufgewachsen, von denen die Ältesten sprachen, denn das Leben bei den Weißen zerstörte unweigerlich das unabhängige Denken oder Handeln. Jagen war verboten, ihre magere Essensration kam aus der Mission. Neue Gesetze verwehrten ihnen das Recht, mehr als zwei Personen zu treffen, demzufolge gab es keine corroborees mehr, und obwohl man ihnen erlaubte, gunyahs als Unterkünfte zu bauen, konnten diese jederzeit durchsucht werden, sollte der Pfarrer den Verdacht hegen, darin sei Rum versteckt. Frauen und Kinder wurden eingefangen und gezwungen, in den Häusern und auf den Feldern der gubbas zu arbeiten. Häufig wurden sie meilenweit fortgeschickt und nie wieder gesehen. Kumali kannte deren Schicksal, denn ihr war es ebenso ergangen.
Sie trat vom Fluss zurück und hockte sich in den Schutz eines Baumes. Drei Jahre zuvor hatte man sie geholt, als sie zwölf war, und sie konnte sich noch immer an die Schreie ihrer Mutter erinnern, hörte noch immer ihren Vater, der den Mann anflehte, sie freizulassen. Man hatte ihr Seile um Hals und Handgelenke gebunden und sie weggezerrt. Die Schreie ihrer Mutter halltennoch lange hinter ihr her, nachdem sie schon längst außer Sichtweite war. In der ersten Nacht hatte man ihr brutal die Unschuld geraubt, und im Verlauf der langen Reise hatte sie erfahren, dass diese Behandlung ihre Zukunft war.
Kumali wischte sich mit den Fäusten die Tränen aus den Augen. Sie weigerte sich, dem Schmerz und der Verwirrung nachzugeben, die sie zuweilen noch immer zu überwältigen drohten, obwohl sie inzwischen fünfzehn war. Ihr neuer Herr war grausam, und seine Schläge hatten Spuren hinterlassen, nicht nur an ihrem Körper, sondern in ihrer Seele. Sie war nichts wert, und wenn sie heute im Fluss stürbe, würde niemand die rituellen Gesänge anstimmen und ihren Tod betrauern.
Das Donnern des Regens ließ nach, und sie schaute aus ihrem dürftigen Unterschlupf hinaus. Die Wolken hellten sich auf, die Sonne brach hindurch. Kumali betrachtete den Fluss, zögerte aber noch immer. Der Gedanke an den Tod war erschreckend. Aber sie
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