Legenden der Traumzeit Roman
streckte den Arm aus und streichelte über ihren geschwollenen Leib. »Das ist ein lebhaftes Kind da drinnen, Kumali. Vielleicht noch ein Sohn?«
Sie zuckte mit den Schultern, denn ihr war gleichgültig, was es war; sie wollte nur, dass es zur Welt kam, damit es ihr wieder gut ging. »Rubys Vater hat Finn geschickt, um nach ihr zu schauen. Ihm wird es nicht gefallen, wenn Ruby ein Kind von Finn bekommt. James wird es nicht gefallen.« Sie schaute Duncan von unten her an. »Fergal auch nicht …«
Duncan kaute auf einem Stück Hammelfleisch. »Dieses ganze Gerede über Kinder ist reine Spekulation – dazu kommt es vielleicht gar nicht.« Er trank einen Schluck Tee und schaute sie finster unter zusammengezogenen Augenbrauen an. »Fergal geht es überhaupt nichts an«, knurrte er, »und uns auch nicht. Wenn Ruby und Finn schließlich zueinander gefunden haben, dann ist es ihre Sache.«
Kumali schüttelte verzweifelt den Kopf. »Fergal sieht Ruby mit Finn. Er sagt es James.«
»Bist du dir da sicher?« Als sie nickte, runzelte er die Stirn. »Na schön«, seufzte er, »das könnte auf jeden Fall für Unruhe sorgen. Wir wollen nur um unser aller willen hoffen, dass James nie zurückkehrt.«
Eden Valley, Juli 1854
Ruby hatte nicht schlafen können und saß trotz der winterlichen Kälte in ihrem Lieblingssessel auf der Veranda. Es war noch nicht hell, doch die Sterne verblassten allmählich, als ein sanftes Grau am schwarzen Horizont auftauchte. Nells Gegenwart war spürbar, und sie zog Trost daraus, denn sie wusste, sie würde sich auch weiterhin daran aufrecht halten, denn in diesen einsamen Stunden vor dem Morgengrauen teilten sie die Hoffnungen und Träume zweier Frauen, die von ganzem Herzen liebten, Frauen, die dem Charme eines Mannes mit dichtem, dunklem Haar und lachenden Augen erlegen waren. Nells Liebe zu ihrem Mann Billy Penhalligan war bis zum Ende stark geblieben – vielleicht noch über den Tod hinaus –, und Ruby erwärmte sich an demGedanken, dass die beiden dort oben bei den Sternen vielleicht vereint waren.
Während sie den nächtlichen Geräuschen lauschte und den Mond beobachtete, dachte sie an den uralten Glauben der Aborigines – dass die Geister der Ahnen über die Menschen wachten, sie führten und ihr Leben lang beschützten, bis auch für sie die Zeit gekommen war, selbst Geister zu werden und bei den Sternen zu leben. Wie traurig, dass Kumali nach ihren brutalen Begegnungen mit den Weißen diesen Glauben aufgegeben hatte! Ruby dagegen, die Tochter eines irischen Sträflings, hielt an der Gewissheit fest, dass der Geist ihrer längst verstorbenen Großmutter noch immer neben ihr wandelte.
Ihre Gedanken kehrten zu Finn zurück. Er füllte ihre Zeit von früh bis spät, kam in ihren Träumen zu ihr und sprach durch den Wind mit ihr. Sein Aufbruch zum Krankenhaus in Sydney war nur wenige Tage nach ihrem ersten und einzigen Kuss notwendig geworden, und beiden war klar, dass es keine Sekunde zu früh war, denn die Versuchung, diesem Kuss einen weiteren folgen zu lassen – weiterzugehen bis zur natürlichen Erfüllung ihres Hungers und damit alle Vorsicht in den Wind zu schlagen –, war unerträglich geworden.
Sie war sich bewusst gewesen, dass er sie beobachtete, wenn sie sich in der Hütte bewegte, und hatte sich eingestanden, dass sie Ausflüchte suchte, um bei ihm zu sein, und Pflichten vernachlässigte, die sich anhäuften; sie hatte erkannt, dass sie ins Verderben gehen würden, wenn sie ihren Herzen folgten. Andererseits hatten sie nicht sprechen müssen, denn ihre Liebe sprach aus ihren Augen, aus jeder Geste und jedem Lächeln.
Sie faltete den Brief auseinander, den sie vor einer Woche von ihrer Mutter aus Sydney erhalten hatte; sie konnte die Schrift in dem spärlichen Licht zwar nicht lesen, doch das war nicht nötig, denn sie kannte ihn auswendig und hütete ihn als eine Bindung an ihr Zuhause und alle, die sie liebten.
Ihre Mutter Amy versicherte ihr, Finns Arm sei bereits verheilt und der Arzt habe sein Bein aus den Schienen genommen, doch die verkümmerten Muskeln müssten wieder aufgebaut werden. Er sei nicht der leichteste Patient, denn er weigere sich, im Bett zu bleiben, und stehe andauernd allen im Weg, wenn er auf seinen Krücken umherhumpele, doch da er die Enkel mit Geschichten unterhalte und ein sehr bezaubernder, liebenswerter Mann sei, könne man ihm nicht böse sein.
Amy schrieb weiter, Niall habe in Finns freundlicher Gesellschaft ein neues Leben
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