Lehmann, Sebastian
ich zur Arbeit muss –, also stöbere ich noch ein wenig in der Buchabteilung im Karstadt am Hermannplatz. In großen Stapeln gleich im Eingangsbereich liegt dort ein dickes Buch mit dem Titel »Neukölln ist überall«. Das wäre ja furchtbar, wenn jetzt überall Neukölln wäre, aber immerhin besser als: »Tiergarten ist überall«. Dann sehe ich, dass das Buch vom Neuköllner Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky geschrieben ist und dass es um Integration geht. Und zwar nicht um die Integration von schwer erziehbaren Hipstern, sondern von sogenannten Problemjugendlichen. Problemjugendliche haben gar keine Probleme, wie ich erst dachte, zum Beispiel, dass sie keinen Job finden oder diskriminiert werden, nein – laut dem Heinz sind die Jugendlichen selbst das Problem, weil sie sich nicht anpassen.
Auf der Rückseite des Buchs lese ich: »Heinz Buschkowsky spricht unbequeme Wahrheiten aus.« Allerdings nicht die, dass es der seit zwölf Jahren regierende Bezirksbürgermeister in diesen zwölf Jahren nicht geschafft hat, aus Neukölln das zu machen, was ein paar zugezogene Studenten, Künstler und schwedische Touristen in sechs Monaten vollbracht haben: ein nettes, bürgerliches Viertel mit dreihundert Biobäckereien, hübschen Bars, überteuerten Mieten und neuerdings sogar imperialistischen Bubble-Tea-Kaschemmen. Wie verlogen diese »Das muss mal gesagt werden«-Typen sind! Das muss echt mal gesagt werden. Ich verlasse schnell wieder den Karstadt, da komme ich lieber zu früh zur Arbeit, als mich mit solchen Büchern zu befassen.
Am Abend treffe ich mich mit Christina und Dr. Alban bei einem Konzert und bringe Gary mit. Er ist ziemlich verspult und gibt die ganze Zeit Weisheiten aus Hermann Hesses »Siddhartha« von sich, er versteigt sich sogar zu der These, der Hermannplatz sei nach Hermann Hesse benannt. Inzwischen ist der gute Kurt wirklich mein einziger normaler Freund, mein letzter Anker in der Realität.
Garys sonst so perfekt sitzender Scheitel ist einem ungewaschenen Haarungetüm gewichen, was gar nicht schlecht aussieht. Zum ersten Mal fällt mir auf, dass sich einige Frauen nach ihm umdrehen und zu tuscheln beginnen. Außerdem riecht er stark nach Tabak. Anscheinend hat er angefangen, regelmäßig zu rauchen – was für eine bescheuerte Idee in seinem Alter (ich selbst meinte das kürzlich ja nur postironisch) –, und verheimlicht mir das. Warum behandeln mich alle, als wäre ich ihr Erziehungsberechtigter? Mir doch egal, wenn Gary raucht. Oder eigentlich nicht. Irgendwie fühle ich mich doch für ihn verantwortlich.
Christina »hat Gästeliste«, wie es so schön heißt, und wir müssen keinen Eintritt bezahlen. Ich arbeite schon eine halbe Ewigkeit bei dem tollen Stadtmagazin, habe aber noch kein einziges Mal einen Gästelistenplatz bei einem Konzert ergattern können. Nur einmal hätte ich zu einer Fest der Volksmusik -Aufzeichnung in den Europapark Rust fahren dürfen, weil bei einem Gewinnspiel im Heft, bei dem die Leser Karten hätten gewinnen können, nur einer mitgemacht, aber dann die Frage (Wie heißt der Moderator von Fest der Volksmusik ? A: Florence Goldstahl oder B: Florian Silbereisen?) falsch beantwortet hatte.
Wir gehen an der langen Schlange vor dem KreuzbergerClub direkt an der Spree, wo das Konzert stattfinden soll, vorbei, und Christina sagt dem Türsteher ihren Namen.
»Gästeliste ist da drüben.« Der Türsteher deutet auf die riesige Schlange, die sich um den ganzen Häuserblock windet und schließlich auf der anderen Straßenseite langsam ausfranst. Berlin ist die einzige Stadt, wo man länger anstehen muss, wenn man auf der Gästeliste steht.
»Jeder steht auf der VIP-Gästeliste, aber richtig wichtig ist niemand«, analysiert wie immer scharfsinnig Dr. Alban die Situation.
Wir stellen uns an der Gästelistenschlange an und beäugen den überforderten Jüngling, der mehrere wirr vollgekritzelte Zettel in der Hand hält und die Namen sucht.
»Das ist ja Frank N. Furter«, sage ich. Ohne seine Federboa habe ich ihn zuerst gar nicht erkannt.
Christina und Dr. Alban sehen mich verständnislos an.
»Der ist doch irgendwie immer der Türsteher, oder?«
»Also ich hab den noch nirgendwo gesehen«, sagt Christina, und Dr. Alban ignoriert mich einfach.
Nach etwa einer Stunde werden wir endlich in den Club gelassen und kommen gerade rechtzeitig zum Anfang des Konzerts. Es ist unglaublich voll mit hippen Jugendlichen, die Stoffbeutel und bunte Turnschuhe tragen.
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