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Lehmann, Sebastian

Lehmann, Sebastian

Titel: Lehmann, Sebastian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Genau mein Beutelschema
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Morgen aufwache. Über mir poltert es furchtbar. Das muss die Familie in der Wohnung über uns sein, Dr. Alban hat schon davon erzählt. Anscheinend fährt das Kind besagter Familie gerade mit einem Bobbycar über die alten Holzdielen, dabei ruft es etwas, das klingt wie: »Später werde ich LKW-Fahrer! Später werde ich LKW-Fahrer!«
    Christina kommt gutgelaunt ins Zimmer gestürmt. »Du bist ja wach?«
    Ich deute zur Decke.
    »Och, das tut mir leid, mein Kleiner, konntest du nicht ausschlafen?« Sie streicht mir über die Haare, zärtlich oder postironisch, ich weiß nicht so genau, und entschwindet in Richtung Fenster, um sich eine Zigarette anzuzünden.
    An diese Morgende könnte ich mich gewöhnen. Schon nachdem ich ein paarmal neben Christina aufgewacht bin, kann ich mir gar nicht mehr vorstellen, wie es ist, morgens allein zu sein. Aber ab wann wird das, was jetzt noch neu und aufregend ist, Routine? Wann bin ich nur noch genervt davon, wenn Christina morgens immer so aktiv und gutgelauntist? Wann beginnt es sie aufzuregen, dass ich immer ewig im Bett liegen bleibe?
    Ich denke an meine Ex-Freundin. Und ich habe schon lange nicht mehr an meine Ex-Freundin gedacht. Ist ja auch schon ein paar Jahre her. Da war ich noch in den Zwanzigern. Bei ihr hatte ich das Gefühl, dass unsere Beziehung von Anfang an Routine war, wir hatten uns einfach unglaublich schnell aneinander gewöhnt. Wir wollten gern erwachsen sein und eine reife Beziehung führen, aber benahmen uns doch nur kindisch, stritten uns über die klassischen Pärchenthemen: Zahnpastatuben, Fernsehprogramm – ich will gar nicht daran denken. Natürlich ist es mit Christina anders. Sie kommt mir – und das ist eigentlich wirklich bescheuert – viel erwachsener vor. Ganz anders als ich mit einundzwanzig. Das glaubt man ja im Nachhinein nicht mehr, wie scheiße man früher war.
    Von einem lauten Poltern werde ich jäh aus meinen Gedanken gerissen. Scheinbar ist das Kind über mir von seinem Monstertruck-Bobbycar heruntergefallen. Aber es geht schon wieder weiter, und das Kind wiederholt jetzt mantraartig einen anderen Satz, den ich erst nicht verstehe.
    »Ruft das Ding jetzt ›Später werde ich Dielenabschleifer! Später werde ich Dielenabschleifer!‹?«, frage ich Christina, die sich gerade umständlich ihre sehr bunten und riesigen neuen Turnschuhe anzieht, die aussehen, als wären sie aus einem Hip-Hop-Video Anfang der neunziger Jahre hergebeamt worden. Anscheinend sind dreckige Bauernstiefel nicht mehr hip, so wie letzte Woche noch. Aber was weiß ich schon?
    »Das ruft er immer.« Christina wirft sich ihren Stoffbeutel über die Schulter.
    Ich muss an den schwangeren Kurt denken. Irgendwie kann ich mir das gar nicht richtig vorstellen – er und Vater. Das wird ihn doch vollkommen wahnsinnig machen und vor allem noch schlechter gelaunt. Aber vielleicht tritt ja auch das Gegenteil ein, und Kurt ist plötzlich die ganze Zeit total ausgeglichen, von seinem Babyglück übermannt, mit einem Dauergrinsen im Gesicht. In Wirklichkeit ist er auch nicht so, wie er sich nach außen immer gibt, gar kein so bedingungsloser Welthasser, er erwartet nur mehr von der Welt als andere. Ich vermute schon lange, dass er im Grunde Idealist und nur permanent enttäuscht ist, dass die Menschen nicht so gut sind, wie sie vielleicht sein könnten. Aber ich fange schon wieder an zu küchenpsychologisieren, als hätte ich nicht Philosophie studiert, sondern Psychologie auf Bachelor.
    »Ich geh dann mal.« Christina beugt sich zu mir herunter, und wir küssen uns, dann entschwindet sie zur Arbeit. Ich stehe schnell auf und beobachte am Fenster, wie sie auf dem Fahrrad gutgelaunt Richtung Universal fährt, den Stoffbeutel als Rucksack umfunktioniert und auf den Rücken geschnallt. Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, hat ein neuer Laden aufgemacht, der mir gestern gar nicht aufgefallen ist. Neben dem veganen Frozen-Joghurt-Café, das sich mit seinen Sperrmüllmöbeln und bunten Sechziger-Jahre-Tapeten kaum von den anderen Etablissements in der Umgebung unterscheidet, prangt nun ein grellorangenes Schild, auf dem in psychedelischer Schrift »Bubble-Tea« steht und vor dem orange Plastikstühle den Gehweg säumen. Vor ein paar Tagen residierte da noch ein türkischer Kulturverein. Die Bubble-Seuche hat jetzt also auch Neukölln erreicht, denke ich und mache mich ebenfalls auf den Weg.
    Ich habe noch etwas Zeit, bis ich zur Arbeit muss – ich habe immer noch etwas Zeit, bis

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