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Lehmann, Sebastian

Lehmann, Sebastian

Titel: Lehmann, Sebastian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Genau mein Beutelschema
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nicht angehäuft, trotzdem ist schon einiges passiert in ihrem Leben: Sie kommt ursprünglich aus Konstanz, hat sie erzählt, großbürgerliche Familie, aber nicht Thomas-Mannbürgerlich, eher diese neue, grüne Ökobourgeoisie, schließlich waren ihre Eltern in jungen Jahren Hippies. Zum Studieren zog sie nach Berlin, verliebte sich gleich in einen gutaussehenden Intellektuellen, der sich allerdings als manisch-depressiv herausstellte. Sie kümmerte sich fürsorglich um ihn, aber dann gab es da noch einen nachdenklichen Theologiestudenten, sozusagen ihren besten Freund, rein platonisch von ihrer Seite aus jedenfalls, der die Beziehung zusätzlich verkomplizierte. Dann verließ sie der Manisch-Depressive, verschwand einfach von der Bildfläche, und auch der Theologe wandte sich von ihr ab, obwohl sie inzwischen doch Gefühle für ihn entwickelt hatte. Und das waren nur die ersten zwei Semester. Ein Leben wie ein Roman.Und aufregender als meine letzten zehn Jahre in dieser Stadt.
    »Was denkst duhu?«, fragt Christina mit verstellter Stimme und drückt beiläufig ihre nur halb aufgerauchte Zigarette im überquellenden Aschenbecher neben uns aus.
    »Was du früher so gemacht hast, bevor du nach Berlin gekommen bist?«, antworte ich. Das scheint sie zu überraschen. Sie setzt sich auf und schaut mich an, dieses Mal nicht so eindringlich, sondern fast zärtlich. Aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Eine blonde Haarsträhne fällt ihr ins Gesicht, und mit einer äußerst charmanten Geste wischt sie sie weg. Dann springt sie auf und holt einen verstaubten Schuhkarton unter dem Schrank hervor, in dem ein paar alte VHS-Kassetten liegen. Diese Dinger wirken inzwischen wirklich sehr museal. Ich meine, so ein neuer Tablet-Computer mit einem Terrorbyte Speicherplatz ist auch nicht viel größer. Aber auf so eine analoge Videokassette bekam man immerhin die drei Zurück in die Zukunft -Teile drauf, wenn man beim Aufnehmen immer schön die Werbung rausgeschnitten hatte.
    »Mir ist das etwas peinlich.« Sie schiebt eine der Kassetten in den Videorekorder. »Ich war damals elf oder zwölf.«
    Auf dem Fernseher erscheint ein verwackeltes Bild. Erst nach ein paar Sekunden erkenne ich ein Mädchen, das in einem Krokodilskostüm Schlittschuh läuft. Ziemlich gut Schlittschuh läuft. Dazu läuft das Lied »New Slang« von den Shins.
    »Bist du das?«
    »Ich war ziemlich erfolgreich. Ich habe damals ein paar Wettbewerbe gewonnen.«
    Christina wirkt zum ersten Mal, seit ich sie kenne, fast verlegen. Ich weiß jetzt zwar nicht viel mehr über ihre Vergangenheit, aber ich fühle mich ihr näher. Sie hat mir etwas gezeigt, was sie wahrscheinlich nicht jedem zeigt. Jetzt also doch Beziehung? Warum kann man bei Facebook als Status eigentlich nicht anklicken: »In einer Beziehung, aber wir nennen es noch nicht so, weil wir nichts übereilen wollen, außerdem weiß ich nie so recht, wie man mit solchen jungen Leuten heutzutage wie meiner Freundin – dieses Wort wollte ich eigentlich auch vermeiden – umgeht.« Aber das wäre ja doch wieder nur: »Es ist kompliziert.« Der blöde Show-Wissenschaftler hat tatsächlich recht.
    Ich gucke wieder zum Fernseher, zu Christina oder eben dem Mädchen im Krokodilskostüm, das dort in irgendeiner süddeutschen Eishalle seine Runden dreht. Irgendwie kommt mir diese Szene bekannt vor. Habe ich das nicht schon mal irgendwo gesehen?
    »So, das reicht.« Christina schaltet den Videorekorder aus. »Jetzt wird geschlafen! Ich muss morgen früh raus und der kroatischen Sängerin Berlin zeigen.« Sie nimmt den dicken Dan-Brown-Schmöker vor die Nase, gähnt laut und fängt an zu lesen.
    Die Shins spielen ihr Lied in meinem Kopf weiter, und obwohl mein Tag nicht gerade wahnsinnig anstrengend war, bin ich ziemlich müde. Ich blicke wieder zu Christina. Das Buch liegt aufgeschlagen auf der Bettdecke vor ihr, und ihre Augen sind geschlossen. Ein paar Sekunden später höre ich ihr gleichmäßiges Atmen. Ich kenne niemanden, der so schnell einschläft und gleichzeitig auch so schnell aufwacht.
    Ich muss wieder an den ADS-Jugendlichen von vorhindenken. Und an diese brutale Kapuzengang. Vielleicht wollte mir der Hip-Hopper etwas sagen, mich warnen vielleicht? Aber bevor ich den Gedanken zu Ende denken kann, bin ich auch schon eingeschlafen.

8
Something is HAPPENING here, but you don’t know what it is
    Christina ist wie immer schon längst aufgestanden und im Badezimmer verschwunden, als ich am nächsten

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