Lehmann, Sebastian
wieder. Ich war auch eine ziemlich schlechte Ghostwriterin.«
Bevor ich noch etwas zu ihrer Geschichte sagen kann, steht auf einmal Gary vor uns.
»So ein Scheißclub hier.« Er nimmt einen Beutel Biotabak aus seiner peinlichen Lederschultasche und beginnt sich gekonnt eine Zigarette zu drehen. Dann holt er allen Ernstes noch einen kleinen Plastikbeutel heraus, gefüllt mit Gras, und bröselt ebenso gekonnt ein wenig auf seine Zigarette,bevor er sie routiniert mit der Zunge anfeuchtet, zusammenrollt und in den Mund steckt. Das hat alles keine zwei Minuten gedauert.
»Bist du jetzt völlig verrückt geworden?«
Gary sieht mich unschuldig an. »Wieso?«
»Äh, also … du hast gerade, ich meine, du …«
»Please speak in a whole sentence«, sagt Gary und lacht. Christina lacht ebenfalls, und ich komme mir ziemlich dämlich vor. Dr. Alban hat vollkommen recht, ich verstehe nicht mehr, was abgeht. Wie hieß das noch mal in diesem Bob-Dylan-Song aus der Sechzigern? »Something is happening here, but you don’t know what it is.« Etwa so fühle ich mich.
»Wisst ihr, wie viel das Bier hier kostet? Vier Euro! Das ist mir echt zu kapitalistisch.« Gary pafft wütend ein paar Züge von seinem Joint.
Was passiert gerade mit ihm? Ich muss an den seltsamen Zurück in die Zukunft -Abend mit den Pilzen denken, als wir ihn schließlich wiedergefunden hatten. Er stand auf der Straße vor dem Haus und unterhielt sich mit einigen Jugendlichen in Kapuzenpullis und erklärte ihnen, warum das Zeitmaschinenauto bei Zurück in die Zukunft ein Symbol sei. Nur wofür es stehe, konnte er nicht sagen, denn es sei ein verlorenes Symbol.
»Hey, du bist doch Chef, du hast genug Geld, nicht wie unsereins«, sagt Christina.
Ich blicke erst zu Christina und dann auf das protzige Universal-Gebäude und dann wieder zu Christina. Nein, ich werde sie jetzt nicht fragen, wie viel sie verdient. Das ist die Elternfrage schlechthin, das kann ich einfach nicht bringen.
»Ach, diese Chefscheiße ist doch eh bescheuert«, sagt Gary.
In diesem Moment tritt der Doktor zu uns.
»Lass uns hier abhauen«, sagt er.
»Nach Neukölln«, rufen Christina und Gary gleichzeitig.
Klar, wohin auch sonst. Ich blicke noch einmal über die Spree zu Universal, das Logo wechselt gerade von Grün auf Blau. Alles wird immer unübersichtlicher. Alles und alle verändern sich in rasendem Tempo. Plötzlich macht ein Bubble-Tea-Laden gegenüber auf. Plötzlich wird dein uncooler Spießerfreund zum Hermann-Hesse-Kiffer. Plötzlich hast du eine neue Freundin, die bei einem Weltkonzern arbeitet und total erfolgreich ist, aber auch kein Geld hat und von Affären mit Kinderstars berichtet. Und du stehst endlich auf der Gästeliste. Alles geht so schnell, dass es einem schwindlig wird. Du mittendrin, wie im Auge des Sturms, unberührt – alles beim Alten.
Aber wer weiß, vielleicht geht es auch bei mir bald los, denke ich, ohne zu wissen, was denn überhaupt losgehen könnte.
Ich bahne mir meinen Weg durch die Menschenmenge, erst wieder rein in den Club und schließlich nach draußen auf die Straße. Eine U-Bahn fährt gerade quietschend über die Oberbaumbrücke. Die anderen haben schon ein Taxi angehalten und warten, dass ich auch einsteige.
»Zum Hermannplatz«, sagt Christina. Der Taxifahrer nickt, und schon fahren wir los.
9
Hier KOMMT Kurt
»Okay, sie heißt also Christina.« Kurt sieht mich misstrauisch an. Wir kämpfen uns durchs Brandenburger Unterholz und suchen einen Badesee, der hier irgendwo in der Nähe sein muss. Dabei berichte ich, wie ich Christina kennengelernt habe, Kurt weiß ja immer noch nichts von ihr und meinem neuen Leben als Semi-Neuköllner.
Wir haben uns seit dem Desaster vor der Zurück in die Zukunft -Party nicht mehr gesehen. Die Wehen hatten sich auch als Fehlalarm herausgestellt, wie Kurt heute Morgen am Telefon erzählte. Überraschend schlug er vor, zusammen schwimmen zu gehen, zum ersten Mal in diesem Sommer. Und als Berliner fährt man natürlich an einen der unzähligen wunderschönen Brandenburger Badeseen, malerisch gelegen in den weiten Wäldern und Wiesen an der Stadtgrenze. Eigentlich der einzige Anlass für die arroganten Städter, mal ihr Umland zu erkunden, aber seltsamerweise sind wir die Einzigen hier. Einmal kommen uns zwei junge Berliner (als Städter erkennt man sich gegenseitig einfach) mit leeren Bierflaschen in der Hand entgegen, die uns schlechtgelaunt ignorieren, sonst begegnen wir im Brandenburger Busch
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