Lehmann, Sebastian
Alter?
Ich fühle mich sowieso eher noch als Junge oder »junger Mann«, das hat die ältere Frau aus dem Hinterhaus schon richtig erkannt. Wie früher, als ich fünf Jahre alt war und mit meiner Mutter beim Metzger vor der Glasvitrine mit dem ganzen Fleisch stand und der Metzger sich zu mir herunterbeugte, auf seiner riesigen Gabel eine runde Scheibe Wurst aufgespießt, und fragte: »Möchte der junge Mann noch eine Gesichtswurst?« Ängstlich versteckte ich mich hinter dem Rücken meiner Mutter, weil ich dachte, in dieser Wurst wären grinsende Gesichter von Kindern verarbeitet,die der böse Metzger nachts mit seiner gigantischen Wurstschneidemaschine abgeschnitten hatte. Im Grunde bin ich immer noch dieser junge Mann von damals, ängstlich und unentschlossen vor der Scheibe Gesichtswurst. Denn irgendwie wollte ich sie natürlich doch haben, die Gesichtswurst. Was für ein Symbol. Ein verlorenes Symbol, Alter.
Vielleicht muss ich erst fünfzig werden, eine Glatze bekommen und nur noch schlechtsitzende Anzüge tragen, bis ich mich endlich richtig erwachsen fühle. Werde ich dann eigentlich mit »der Mann« angesprochen: »Na, der Mann , gestern war die Musik aber wieder ziemlich laut!« Oder: »Möchte der Mann noch eine Scheibe Gesichtswurst?«
Vor zwei Tagen, als wir ziemlich betrunken in der No-Name-Bar saßen, habe ich Christina sogar gefragt, ob ihr es nichts ausmache, dass ich zehn Jahre älter bin. »Ich steh halt auf reifere Typen«, hatte sie geantwortet und gelacht. »Und solange du noch keine Glatze hast …« So witzig fand ich das gar nicht. Immerhin benutze ich dieses zwielichtige Koffeinshampoo gegen Haarausfall.
Ich lasse mich neben Christina auf die Matratze fallen, und wir küssen uns beiläufig zur Begrüßung.
»Ist das der vegane isländische Sänger?« Ich deute auf den Laptop, aus dem die seltsame Musik dröhnt.
»Nee, das ist die transsexuelle kroatische Opernsängerin zusammen mit Smashing Schönheit.«
Hat nicht Dr. Alban schon mal von denen gesprochen? Ich komme mir mal wieder ziemlich blöd und auch ziemlich alt vor. Ich habe mir heute in der Mittagspause die letzte Noel-Gallagher-Soloplatte gekauft. Auf CD. Aber reden wir nicht darüber.
»Wie war dein Tag?« Christina zupft an ihrem T-Shirt herum und sieht mal wieder umwerfend aus.
»Ich hab gerade was Komisches gesehen«, übergehe ich ihre Frage. Wie soll mein Tag als Kleinanzeigenbetreuer denn schon gewesen sein? »Da war so eine Gruppe Jugendlicher mit Kapuzenpullis, und die haben so einen Hipster-Typ einfach überfallen und in einen Hauseingang gezerrt.«
Christina pustet etwas Rauch in die Luft. Wie von selbst bilden sich kleine Rauchringe.
»Das ist Neukölln, mein Schatz«, sagt sie und sieht mich wieder so durchdringend an. »Du hast doch keine Angst vorm Hermannplatz?« Dann zieht sie mich zu sich, und wir küssen uns lange. Dabei überlege ich, was es zu bedeuten hat, dass sie mich gerade »mein Schatz« genannt hat. Wir haben Sex, auch ziemlich lange, und als wir fertig sind, liegen wir nackt auf dem Rücken auf ihrer Matratze. Das Fenster steht offen, und ein kühler Luftzug trocknet unseren Schweiß. Wieder so ein Moment, den man festhalten möchte, bis er so etwas wird wie echtes Glück.
Ich bin vollkommen erschöpft und könnte sofort einschlafen, aber Christina wirkt noch ziemlich wach und zündet sich eine Zigarette an.
»Kann ich auch eine haben?«
Sie schaut mich verwundert an. »Seit wann rauchst du?«
»Man muss doch auch mal was ausprobieren. Wenn man jung ist, denkt man, da kommt noch irgendwas später, irgendwas Aufregendes, aber dann geht es einfach immer so weiter.«
»Und da willst du jetzt anfangen zu rauchen?«
»Warum nicht? Ist doch mal was Neues. Außerdem hatman dann immer was zu tun, wenn man irgendwo blöd allein rumsteht.«
Christina nimmt eine Zigarette aus der Packung, steckt sie mir in den Mund und zündet sie an. Ich atme tief ein und muss natürlich sofort husten.
»Meine letzte Zigarette hab ich zweitausendzwei völlig besoffen auf einem Jeans-Team-Konzert geraucht«, sage ich. Beinahe hätte ich auch noch gesagt: Das waren noch Zeiten. Manchmal komme ich mir vor wie mein Opa, der vom Krieg erzählt.
»Wo?« Christina sieht mich verständnislos an. Ich habe vergessen, dass sie damals erst zehn Jahre alt war.
Wir rauchen schweigend, es schmeckt nicht mal so schlecht, und ich frage mich, wie Christinas Leben wohl bis jetzt war. Viel Vergangenheit hat sich bei ihr ja noch
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