Lehmann, Sebastian
abzudriften.
»Die Lage ist ernst«, äfft mich der Doktor nach und grinst mich hämisch an.
Christina hat aber zum Glück gar nicht zugehört. Ihre Aufmerksamkeitsspanne ist durch das Kiffen noch kürzer geworden. Wenn ich kiffe, ist es genau andersrum: Alles geht wahnsinnig langsam, jedenfalls für mich. Wenn ich dann irgendwann auf die Uhr schaue, merke ich immer entsetzt, dass schon Stunden vergangen sind.
Christina hält mir den nach ultrastarkem Gras riechenden Joint vor die Nase. Reflexartig nehme ich ihn zwischen die Finger und inhaliere kräftig. Wirklich ziemlich stark. Das wird Gary ganz schön umgehauen haben, denke ich. Dann muss ich lachen.
Gefühlte drei Minuten später erwache ich aus meinen Tagträumen. Ich liege auf der Matratze, im Aschenbecher daneben kokeln erschreckend viele Jointstummel vor sichhin. Christina liegt neben mir und schläft tief und fest, der Doktor ist verschwunden. Mein Blick fällt auf Christinas Handy, das seltsamerweise auf ihrer Stirn balanciert. Es ist vier Uhr nachts. Wann bin ich hier angekommen? Um halb neun?
Überraschenderweise fühle ich mich ausgesprochen wach, also versuche ich aufzustehen, weil ich plötzlich wie verrückt Durst habe, aber ich kann mich nicht bewegen. Ich liege auf dem Rücken und schaffe es nicht, mich auf die Seite zu drehen, meine vier Gliedmaßen schwingen nur hin und her wie bei einem Käfer, der auf seinen Rückpanzer gefallen ist. Ich stoße Christina an, um sie zu wecken, vielleicht kann sie ja aufstehen und etwas zu trinken holen. Wie immer wacht sie sofort auf. Sie dreht mir ihren Kopf zu, wobei das Handy runterfällt. Sie scheint es gar nicht zu bemerken.
»Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt«, sage ich. Christina sieht mich irritiert an, ihre Augen sind nicht wie sonst pastellblau, sondern blutrot.
»Ich kann mich nicht bewegen«, sagt sie schließlich.
»Ich auch nicht.« Ich schaukle noch ein wenig herum, schaffe es aber einfach nicht, mich umzudrehen und aufzustehen.
»Was sollen wir jetzt tun?«, fragt Christina. »Ich habe unfassbar krass Durst.«
»Ich auch.«
»Wir können um Hilfe rufen.«
»Dr. Alban?«, rufe ich, aber meine Stimme wird, sobald ich lauter rede, seltsam hoch, wie ein heiseres Piepen.
»Zu viel gelacht.« Christina versucht ebenfalls, nach dem Doktor zu rufen, doch auch bei ihr kommt nur ein hohes Krächzen aus dem Mund, als sei sie im Stimmbruch.
Wir ergeben uns in unser Schicksal als unbewegliche Käfer. Leider sind wir beide hellwach und können nicht mehr einschlafen.
»Ich wollte dich vorhin irgendwas wahnsinnig Wichtiges fragen, aber ich komme einfach nicht mehr darauf, was«, sage ich nach einer Weile.
»Hat es mit meinem Job zu tun?«
»Wieso denn das?«
»Ach, hab ich dir das nicht erzählt?«
»Was?« Ich drehe meinen Kopf zu ihr.
»Es gibt Umstrukturierungen in der Firma. Mein Chef redet von nichts anderem mehr als von der Krise der Musikwirtschaft. Vor ein paar Tagen hat er ein Wahlplakat der Piratenpartei im Büro aufgehängt, auf das er immer mit seiner Gaspistole schießt, wenn er wütend ist. Inzwischen ist es schon ganz zerfetzt. Es wird wohl bald Entlassungen geben.«
»Christina, das ist wirklich sehr interessant, aber das war es nicht. Es hatte nichts mit dir zu tun, sondern mit einem Freund von mir.«
»Mit diesem Kurt?«
»Nee, ich glaube nicht. Mir fällt es einfach nicht ein. Da war doch heute irgendwas. Wieso bin ich nochmal zu dir gekommen?«
»Na, weil ich deine Freundin bin.«
Hat sie das gerade wirklich gesagt? Warum spricht sie gerade jetzt über so viele ernste Sachen, erst das mit dem Job und dann auch noch zum ersten Mal davon, dass wir einechtes Paar sind. Gut, sie ist wahrscheinlich noch ziemlich bekifft.
»Wir haben gekifft!«, rufe ich. »Deswegen bin ich hier.«
»Stimmt.« Christina deutet auf den Aschenbecher, neben dem auch der inzwischen nur noch halbvolle Plastikbeutel mit dem Gras liegt.
»Gary«, rufe ich.
»Gary«, ruft sie.
»Wo ist er?«
»Der ist doch mit Doc Brown in die Sächsische Schweiz gefahren, zu dieser Kommune.«
Ich springe auf. »Warum erzählst du mir das erst jetzt?«
»Du bist aufgestanden«, sagt Christina. »Du kannst dich wieder bewegen. Wasser! Hol Wasser!«
»Warte mal kurz. Was wollen die denn in der Sächsischen Schweiz, gibt’s da nicht so viele Nazis? Und was hat Gary mit diesem seltsamen Psychologen zu tun?
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