Lehmann, Sebastian
Überhaupt – eine Kommune? Wir haben doch nicht mehr neunzehnhundertsiebenundsechzig.« Mir wird ganz schwindlig von diesen ganzen Fragen. Meine Stimme hört sich allerdings zum Glück wieder halbwegs normal an.
»Das ist wohl so eine Nudistengemeinschaft, was weiß ich. Doc Brown ist ein bisschen esoterisch. Die praktizieren da wahrscheinlich freie Liebe, machen Gruppenanalyse und so …«
»Und so?«
»Na ja, vielleicht nehmen die da auch Drogen. Oder eigentlich: Die nehmen da ziemlich sicher Drogen.«
Was ist nur mit Gary los? Warum hat er sich so verwandelt? Ich beginne in Christinas Zimmer auf und ab zu wandern. Draußen wird es inzwischen schon hell. Gary wardoch immer der vernünftige Langweiler, und jetzt knallt er so durch und verschwindet einfach mit einem verrückten Psychologen in die Sächsische Schweiz zu den Nudisten-Nazis. Nichts ist mehr sicher, wenn es sogar Gary erwischt. Ich sehe wieder zu Christina. Sie ist eingeschlafen.
Ich gehe in die Küche, um Wasser zu holen. Als ich durch die Tür trete, stolpere ich über Dr. Alban. Er liegt in Embryonalstellung auf dem Küchenboden, aber seine Augen sind geöffnet.
»Die kalten Fliesen«, flüstert er. »Mir war so heiß.«
»Schon okay.« Ich gehe zum Wasserhahn und trinke etwa drei Liter Wasser, dann geht es mir ein wenig besser. Als ich wieder vom Spülbecken aufblicke, ist Dr. Alban verschwunden.
»Alle verschwinden«, murmle ich vor mich hin und trotte zurück in Christinas Zimmer, stelle ihr ein Glas Wasser neben das Bett und sammle meine Kleider vom Boden auf. In ein paar Stunden muss ich arbeiten und sie auch, aber ich werde nicht mehr schlafen können.
Ich laufe zum Hermannplatz, die Sonne geht gerade auf, und die paar Leute, die mir um diese Zeit entgegenkommen, sehen in diesem Licht aus wie auf vergilbten Familienfotos aus den siebziger Jahren. In der U-Bahn sitzen lauter frischgeduschte, wohlriechende Menschen, die zur Arbeit fahren und mich mustern, als wäre ich der letzte Penner, nach Gras stinkend, übermüdet von zu viel Partymachen. Jedenfalls bilde ich mir das ein. Ich ziehe die Kapuze von Christinas Pulli, den ich ihr geklaut habe, über und starre schlechtgelaunt aus dem U-Bahn-Fenster. Was ja bedeutet, dass ich mich selbst anschaue, mein verquollenes Gesicht, gespiegelt in der schwarzen Scheibe. Meine Augen leuchtengelblich rot wie bei einem Zombie. Ich muss für die anderen Fahrgäste aussehen wie aus dem Film Dawn of the Dead entlaufen. Und genau so fühle ich mich auch.
Zu Hause in meiner Wohnung dusche ich erst einmal ausgiebig, hole mir eine Club Mate aus dem Kühlschrank und mache mich dann auf den Weg zur Arbeit. So früh war ich schon lange nicht mehr hier. Ich muss wieder an Gary denken, der sonst immer pünktlich im Büro saß und nur verschämt lächelte, wenn ich mal wieder erst gegen Mittag eintrudelte, weil ich am Abend davor mit Christina durch die Neuköllner Bars gezogen war.
Wer ist denn jetzt mein Chef? Außer Gary und mir gibt es ja niemanden in der Kleinanzeigenabteilung. Nur diese zwei Praktikanten, die sich vor kurzem bei uns beworben haben. Wollten die nicht sogar heute kommen? Das fehlte gerade noch.
Vor dem riesigen Bürogebäude, in dem die Redaktion untergebracht ist, stehen zwei Damen mit obszönen Dauerwellen, rauchen gierig Zigaretten und trinken Kaffee. Die beiden sehen aus wie die bösen Schwestern von Marge Simpson, die eine hat sogar lila Haare. Sie stoßen gerade mit ihren Tassen an und rufen laut »Prost«. Das ist wirklich das Allerletzte, auch noch mit Kaffeetassen anzustoßen, diese aufgesetzte Geselligkeit macht mich wahnsinnig. Ich denke sehnsüchtig an Christina. In ihrem hippen Plattenfirmenbüro gibt es bestimmt keine Kaffeetassengeselligkeit, die trinken wahrscheinlich morgens nur perfekt gemixte Club-Mate-Rhabarber-Schorle mit einem Schuss Wodka. Die verdienen ihr Geld schließlich mit Rock ’n’ Roll.
Ich bin tatsächlich der Erste in der Redaktion, nicht einmal der Chefredakteur ist da, seine Tür direkt neben demEingang, die sonst immer offen steht, damit er alles unter Kontrolle hat, ist geschlossen. An der Tür hängt ein großes Hufeisen und darunter ein Nummernschild aus Nebraska. Der Chefredakteur hat einen kleinen Amerika-Fimmel und gilt als der größte Bruce-Springsteen-Fan in ganz Berlin.
Die Frau am Empfang schaut mich komisch an – so früh hat sie mich hier noch nie gesehen – und hebt dann ihre eklig bräunlich verfärbte Kaffeetasse zum Gruß.
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