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Lehmann, Sebastian

Lehmann, Sebastian

Titel: Lehmann, Sebastian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Genau mein Beutelschema
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Angewidert wende ich mich ab, gehe schnell durch den langen Gang, vorbei erst an der Musik- und Filmabteilung des Magazins, dann an den Kunst-, Theater-, Lifestyle- und Gastro-Redaktionen, schließlich an Marketing und Anzeigen (den großen), dann um drei Ecken in den schäbigen Teil der Redaktion, bis ich vor unserem kleinen Kleinanzeigenbüro stehe. Kleinanzeigen brauchen schließlich kein großes Büro.
    Ich öffne die Tür, knipse das Licht an und erschrecke mich fast zu Tode. An Garys Schreibtisch, der meinem gegenüber steht, sitzen die zwei Praktikanten und lächeln mich gewinnend an. Beide tragen schwarze, enggeschnittene und perfekt sitzende Anzüge, wie ich sie mir wahrscheinlich nie werde leisten können. Vor ihnen stehen zwei dampfende Tassen Kaffee. Und auch auf meinem Schreibtisch steht ein frischer Kaffee. Irritiert starre ich die Tasse an, dann wieder die zwei Praktikanten, die mit eingefrorenem Lächeln einfach nur dasitzen.
    »Wie seid ihr denn bitte hier reingekommen?«, frage ich, als ich mich etwas von meinem Schreck erholt habe, und lasse mich auf meinen Schreibtischstuhl fallen.
    »Frau Samsa vom Empfang hat uns reingelassen«, sagt der eine der beiden.
    »Sie heißt Frau Samson«, verbessere ich ihn.
    »Wir würden gern arbeiten«, sagt der andere Praktikant und trommelt nervös mit den Fingern auf dem Schreibtisch herum, und ich muss mich zusammenreißen, um nicht draufzuschlagen. Wenn ich übermüdet bin, werde ich gern mal aggressiv.
    Ich nehme einen Schluck Kaffee. Der Milchschaum ist mit sogenannter Latte-Art verschönert und bildet ein großes Herz, durchstochen von einem Pfeil.
    »Das ist schön«, sage ich, nach Fassung ringend. »Es ist nur so, dass der Chef, also Herr Gary Bar…, ähh, der euch eingestellt hat … Jedenfalls kommt der heute nicht. Und morgen und übermorgen auch nicht. Deswegen würde ich sagen, ihr könnt jetzt wieder gehen.«
    Die zwei Praktikanten springen auf. »Wir haben aber einen Vertrag unterschrieben«, sagen sie im Chor.
    Ich frage mich, ob die beiden vielleicht Brüder sind, sie sehen sich wahnsinnig ähnlich, ich kann sie eigentlich kaum unterscheiden.
    »Und dieser Vertrag tritt heute in Kraft«, fügt der eine noch hinzu, offenbar weiß er ganz genau Bescheid.
    »Na ja, ich vermute mal, ihr bekommt ohnehin kein Geld, und ein schönes Zeugnis kann ich euch auch so schreiben, also …« Ich mache eine wedelnde Handbewegung Richtung Tür. Mein Bedürfnis, den Tag allein im Büro zu verbringen, wächst stetig. Die Beine hochlegen, Youtube-Videos gucken, ein wenig Schlaf nachholen, so stelle ich mir die nächsten Stunden vor, die ganzen Joints liegen mir noch schwer im Magen oder im Kopf oder wo auch immer. Aber mit diesen zwei Motivationstypen hier wird das nicht gehen, und sie machen auch keine Anstalten, das Büro zu verlassen,sondern haben sich wieder hingesetzt. Der eine hat schon ganz glasige Augen, wahrscheinlich bricht er gleich in Tränen aus.
    »Wir haben ein Recht, hier zu arbeiten«, tut er klugscheißend kund.
    Ein Recht, ausgebeutet zu werden, will ich gerade ebenfalls klugscheißend hinzufügen, da schlägt plötzlich die Bürotür auf, und der Chefredakteur betritt breitbeinig das Zimmer. Hat er die Tür etwa wie in einem Saloon mit den Schuhen aufgetreten? Die zwei Praktikanten sitzen sofort stramm und lächeln gewinnend. Die nachwachsende Generation weiß anscheinend intuitiv, wer wirklich wichtig ist.
    Wie jeden Tag trägt der Chefredakteur ein Holzfällerhemd, hellblaue Levi’s-Jeans und Cowboystiefel, die viel zu laut auf dem Boden klackern. Der oberste Hemdknopf ist jovial geöffnet, und graues Brusthaar bahnt sich seinen Weg bis zum Hals. Außerdem riecht er stark nach dem American-Spirit-Tabak, mit dem er sich ununterbrochen Zigaretten dreht. Schon seit Jahren wird er in der Redaktion nur »der Boss« genannt, wie sein großes Vorbild Bruce Springsteen.
    Er sieht sich verwirrt um. Sein Blick bleibt auf mir haften, und ich sehe förmlich, wie er versucht, sich an meinen Namen zu erinnern. Schließlich sagt er einfach »Guten Morgen« und hält mir einen gelben Briefumschlag hin. »Das ist heute hier eingetroffen.« Leider hat er im Gegensatz zur berühmten Reibeisenröhre des echten Bosses eine hohe Fistelstimme.
    Ich öffne das Kuvert, ein paar Krümel Gras rieseln dabei auf meinen Schreibtisch, und entnehme einen einfachenZettel. Darauf steht in krakliger Schrift: »Fickt euch!«, gefolgt von Garys Unterschrift.
    Ich schaue den

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