Lehmann, Sebastian
Boss fragend an. Mir fällt beim besten Willen nichts ein, was ich jetzt sagen könnte.
»Wie es aussieht«, fiept er, nach gefühlten zehn Minuten unerträglicher Stille, die er genüsslich auszukosten schien, »sind Sie, mein lieber … äh, jetzt auf sich allein gestellt. Sie haben ja auch gerade kompetente Verstärkung bekommen« – er nickt den zwei Praktikanten beiläufig zu, die mit gesenktem Blick an Garys Schreibtisch sitzen, aber freudig in sich hineingrinsen – »also wird das hier alles seinen gewohnten Gang gehen können.« Er hält kurz inne und wischt sich mit einem karierten Stofftuch den Schweiß von der Stirn.
»Ich befördere Sie hiermit zum Chef der Kleinanzeigenabteilung.« Er macht eine seltsame Handbewegung, die ein wenig an die Segnungsgeste des Papstes zu Ostern erinnert, und verlässt geschäftig das Büro. Zurück bleibt nur der Geruch nach American Spirit.
Das hat mir jetzt gerade noch gefehlt. Die Praktikanten können ihre Genugtuung nur unzureichend verbergen und scheinen förmlich vor Vorfreude zu vibrieren. Das wird wohl heute nichts mit einem ruhigen Tag zum Katerkurieren.
»Wie heißt du?«, frage ich den einen von ihnen, der mir etwas größer vorkommt und vorhin so auf den Vertrag gepocht hat.
»Artur«, sagt er und trommelt wieder nervös auf dem Schreibtisch rum.
»Also, als Erstes: Dieses Rumtrommeln macht mich wahnsinnig, stell das bitte ein.« Arturs Lächeln gefriert, und erhört sofort auf, den Tisch zu bearbeiten. Ein bisschen beneide ich Gary, dass er den Absprung geschafft hat. Wobei, sächsische Nudisten sind nicht gerade meins. Und eigentlich bin ich auch ganz schön sauer auf ihn, dass er mich hier alleinlässt. Schließlich will ich doch gar nicht Chef sein. Allerdings macht es schon ein wenig Spaß, die Praktikanten-Klugscheißer rumzukommandieren. »Zweitens«, führe ich meine kleine Ansprache fort und wundere mich, dass ich so autoritär sein kann, aber wahrscheinlich steckt in uns allen ein heimlicher Blockwart, »werde ich der Einfachheit halber euch beide Artur nennen.« Den beiden fällt die Kinnlade runter, doch ich rede schon weiter, langsam komme ich in Fahrt. »Und drittens: Mein Kaffee ist kalt.«
Sofort springen beide auf, reißen die Tasse vom Tisch und rennen eilig aus dem Büro zur Küche am anderen Ende des Gangs. Erleichtert atme ich auf. Der Kaffee hatte natürlich die perfekte Temperatur, aber wenigstens habe ich jetzt ein paar Minuten Ruhe, bis die beiden wieder zurück sind.
Ich lehne mich gerade in meinem Sessel zurück, da klingelt mein Handy. Genervt schaue ich auf das Display: »Christina«.
Ich nehme ab, und ohne Begrüßung sagt sie: »Ich bin gefeuert.«
11
Glory Days
Ich sehe sie schon von weitem. Sie sitzt auf dem Bordstein vor meinem Haus in Tiergarten, die Bauarbeiter auf den Bänken vor dem Spätkauf gegenüber begutachten sie neugierig. Auch wenn sich inzwischen immer mehr Stoffbeutelträger hierherverirren, bleiben sie Exoten.
Mir fällt die E-Mail ein, die ich vorhin bei der Arbeit gelesen habe. Die Lifestyle-Redakteurin hatte eine Rundmail an alle Mitarbeiter geschrieben. Ich lese solche Mails immer gern, dann fühle ich mich wichtig und der Redaktion zugehörig, aber natürlich antworte ich nie. Wen würde schon interessieren, was die Kleinanzeigenabteilung denkt? Auf diese Rundmail hätte ich allerdings wirklich antworten können, es ging nämlich darum, dass in Tiergarten angeblich immer mehr Hipster rumlaufen und hier vielleicht der nächste Berliner Szenebezirk entstehen könnte.
Ich versuche, mich an die Lifestyle-Redakteurin zu erinnern, ich muss sie schon einmal in der Kantine oder auf einer Redaktionskonferenz, bei der ich als Vertretung für Gary teilgenommen habe, gesehen haben. Wenn ich das richtige Gesicht im Kopf habe, dann erinnert sie mich ungut an meine Englischlehrerin Mrs. Franzen. Ich mussirgendwann mal darüber nachdenken, warum in letzter Zeit ständig Mrs. Franzen in meinem Gehirn herumspukt. Allerdings bedeutet für Mrs. Franzen »Szene« wahrscheinlich das Gleiche wie für die Lifestyle-Redakteurin, nämlich Alt-68er, die sich abends auf einen trockenen Weißwein im Zwiebelfisch am Savignyplatz treffen.
Oder vielleicht auch Claudia Roth. Wenn ich an die Lifestyle-Redakteurin denke, dann fühle ich mich plötzlich unfassbar jung. Ich glaube, ich kann gar nicht so alt werden wie die Lifestyle-Redakteurin. Trotzdem ist ja etwas dran an ihrer Beobachtung, nur halten sich die Stoffbeutelträger
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