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Lehmann, Sebastian

Lehmann, Sebastian

Titel: Lehmann, Sebastian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Genau mein Beutelschema
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konnte ich wenigstens in Ruhe YouTube-Videos schauen. Nächste Woche sollen noch zwei Praktikanten kommen, dann bleibt wahrscheinlich gar keine Arbeit mehr für mich übrig.
    »Was ist denn los?«, fragt Kurt.
    »Sei mal ruhig!«, rufe ich genervt.
    »Was?«, fragt Christina.
    »Nicht du. Was hat denn Gary jetzt?«
    »Er sitzt hier bei uns in der Küche rum und wirkt ziemlich daneben, du solltest wirklich vorbeikommen.« Im Hintergrund höre ich plötzlich Garys Stimme. Allerdings verstehe ich kein Wort, es hört sich irgendwie an, als würde er rückwärtssprechen.
    »Okay, ich komme«, sage ich und lege auf.
    »Kannst du mich zum Hermannplatz fahren?«, frage ich. Kurt nickt nur und dreht das Radio wieder lauter. »No, I don’ t have a gun«, singen beide Kurts.
    Kurt setzt mich am Hermannplatz ab und fährt dann weiter in den Prenzlauer Berg. Ich laufe schnell zu Christinas Wohnung, von Kapuzengangs ist heute zum Glück keine Spur, aber als ich gerade in ihre Straße einbiege, entdecke ich wieder den alten bärtigen Hertha-BSC-Fan, scheinbar regungslos vor seiner Kneipe ausharrend. In seinen gelblichen Fingern hält er eine selbstgedrehte Zigarette.
    »Weißt du, mein Lieber, ich war damals dabei«, sagt er mit seiner rauchigen Stimme, bevor ich mich vorsichtig an ihm vorbeischlängeln kann, und nimmt einen Schluck aus seiner Bio-Cola-Flache, die er heute statt der Club-Mate dabeihat.
    »Bei was denn?«, frage ich unsicher und bleibe in gebührendem Abstand stehen.
    »Ich war dabei, als in den Siebzigern David Bowie und Iggy Pop ihre Platten in Berlin aufgenommen haben, ich hab Christiane F. ihren ersten Schuss gesetzt.« Er muss husten und nimmt sofort einen kräftigen Zug von seiner krummenZigarette. »Ich hab mit Sven Regener in den Achtzigern in Kreuzberg gesoffen und Schweinebraten in der Markthalle gegessen, meine schönen blauen Augen sind die, die Ideal besungen haben. Ich war dabei, mein Lieber.«
    Er sieht mich ausdruckslos an, vielleicht wirkt das aber nur so, weil sein komplettes Gesicht von dichtem Bartgestrüpp überwuchert ist. Allerdings sind seine Augen wirklich blau, und vielleicht waren sie früher sogar einmal schön.
    »Interessant«, sage ich höflich, aber er beachtet mich gar nicht.
    »Ich war dabei, als das mit Techno so richtig losging, und bin auf der Loveparade mit Westbam auf den coolsten Floats mitgefahren. Ich war dabei, als das Berghain aufgemacht hat, und hab dem Türsteher seine Tattoos gestochen. Ich war dabei, mein Lieber, aber jetzt …« Der Alte hält inne, hustet noch einmal ausgiebig, wirft seine Zigarette auf den Gehweg, tritt sie nachlässig aus und wankt an mir vorbei die Straße runter.
    Ich schaue ihm noch eine Weile hinterher, dann gehe ich schnell weiter zu Christina.

10
Die Verwandlung
    Christina und Dr. Alban sitzen in Christinas Zimmer auf den kaputten Sesseln, und der Doktor hält einen riesigen Joint in seinen Fingern.
    »Seit wann kifft ihr?« Ich lasse mich auf Christinas Bettmatratze fallen.
    »Ist von Gary«, sagt Dr. Alban mit einer seltsam hohen Stimme. Christina muss lachen.
    Nicht zu fassen, jetzt versorgt Gary schon meine neuen Freunde mit Gras. Die härteste Droge, die er bislang in seinem Leben zu sich genommen hatte, war schwarzer Kaffee. Und dann war er drei Tage wie auf Speed.
    Dr. Alban wirft mir einen riesigen Plastikbeutel, gefüllt mit Gras, zu. »Sollen wir dir geben, hat Gary gesagt. Wir haben uns nur ein wenig abgezweigt.« Dr. Alban reicht den Joint an Christina weiter, die nimmt einen tiefen Zug und muss lachen. »Danke. Wahnsinn. Und wo ist er jetzt?«
    »Der ist schon wieder gegangen.« Dr. Alban versucht, mich mit seinem typisch ernsten Gesichtsausdruck zu fixieren, muss aber lachen. Christina lacht auch wieder.
    Ich springe von der Matratze auf. »Ihr habt ihn gehen lassen? Ich dachte, er ist völlig daneben?«
    »Wenn man die ganze Zeit das hier raucht, dann wundert mich gar nichts mehr.« Christina zeigt lachend auf den Joint.
    Aufgeregt wandere ich im Zimmer auf und ab. »Und was soll ich mit dem ganzen Gras? Ich bin doch keine sechzehn mehr.« Ich schaue mir die Tüte genauer an, es steht groß »Chronic« darauf.
    »Wisst ihr wenigstens, wo er hinwollte?«
    »In die Sächsische Schweiz.«
    Ich starre Dr. Alban fassungslos an. Christina muss lachen.
    »Jetzt hör mal auf zu lachen, die Lage ist ernst«, fahre ich sie an und bereue es gleich wieder. Ich muss echt aufpassen, nicht immer in diese Besorgter-Vater-Rolle

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