Lehmann, Sebastian
verschleppen, kann ja noch sein, aber Klone …« Er schüttelt den Kopf.
Nur Christina sagt nichts. Sie sitzt auf einem wackligen Klappstuhl am Küchenfenster und starrt nachdenklich vor sich hin. Aus einem Berghain-Flyer hat sie geistesabwesend eine winzige Origami-Nerdbrille gefaltet und auf das Fensterbrett gestellt. Sie hat ja den seltsamen Dialog im Treppenhaus der Rütli-Schule mitgehört, der durch meine Geschichte sogar halbwegs Sinn ergibt, selbst wenn sie danach das ganze Ausmaß der Hipster-Produktion nicht mitbekommen hat. Und ihr wird wahrscheinlich auch klar sein, was das alles für sie und den Doktor bedeuten würde, wenn es tatsächlich wahr wäre: Sie wären beide Klone, erschaffenvon verrückten Rütli-Schülern, angefüttert mit dem wichtigsten Hipster-Wissen und in die Neuköllner Freiheit entlassen, um schön vor sich hin zu gentrifizieren. Bis sie es übertrieben haben und die Smiths begannen, sie nach Tiergarten abzuschieben. Und bei Dr. Alban und den Art-Spacelern hat ihr Plan sogar funktioniert.
Aber seit ich gesehen habe, dass für die Klone offenbar das Stereotypen-Video auf dem Lehrplan steht, habe ich noch eine viel schlimmere Befürchtung – schließlich heißt das, dass auch Christina das Video gesehen haben muss, als ihr in der Rütli-Schule der Hipster-Kanon eingetrichtert wurde. Vielleicht hat sie mich damals im Kellerclub also nur angesprochen, weil ich ihr irgendwie bekannt vorkam. Und vielleicht hat sie sich auch nur in mich verliebt, weil sie unterbewusst das große Vorbild, das ich ja anscheinend für die Klone bin, anhimmelt. Wie oft habe ich mich gefragt, warum sie gerade mich angesprochen hat, was sie ausgerechnet an mir gut fand? Und das würde es erklären. Andererseits ist dieser Gedankengang auch völlig absurd, da hat Kurt natürlich recht.
»Du hast wohl nicht nur Matrix gesehen, sondern auch Blade Runner , was? Deine Vorliebe für alte Science-Fiction-Filme kennen wir ja.« Der Doktor kann ein hämisches Grinsen nicht unterdrücken.
Kurt wippt den Kinderwagen noch heftiger auf und ab und hört gar nicht mehr auf, die Augen zu verdrehen. »Bei Blade Runner konnte man die Replikanten auch kaum von echten Menschen unterscheiden«, brummt er.
Stimmt, denke ich, hieß es nicht im Film, dass die Replikanten menschlicher als menschlich sein sollten? Christina und Dr. Alban sind ja auch hipper als hip.
»Was ist mit unseren Erinnerungen?«, fragt Christina leise. »Wenn deine Theorie stimmt, sind sie nicht echt, dann haben wir gar keine eigene Vergangenheit.«
Ich muss wieder an die alte Videoaufnahme von Christina denken, auf der sie in einem Krokodilskostüm Schlittschuh läuft. Kommt nicht in diesem Film mit Natalie Portman, The Garden State , eine ganz ähnliche Szene vor? Es ist also wirklich wie in Blade Runner , da bekommen die Replikanten ja auch Kindheitserinnerungen verpasst, damit sie nicht merken, dass sie keine echten Menschen sind.
»Der große Fehler bei Matrix ist ja, dass ein Dualismus aufgemacht wird«, schaltet sich Dr. Alban ein, wieder ganz Nerd. »Einerseits gibt es die Matrix, also eine simulierte Welt, und andererseits die wahre Welt, wo die Menschen als Energiespender für Maschinen missbraucht werden. Das würde bedeuten, dass es hinter den Erscheinungen in der Simulation noch die Wahrhaftigkeit gibt, wenn man so will, die Dinge an sich – oder eben Gott.«
Der Doktor macht eine Kunstpause und blickt triumphierend in die verständnislos dreinschauende Runde. Mir kommt das alles aus meinem Philosophiestudium wage bekannt vor.
»Das ist natürlich Quatsch«, fährt er fort, »denn wenn man sicher weiß, dass es die Matrix gibt, woher nimmt man dann die Gewissheit, dass die vermeintlich wahre Welt nicht auch eine weitere Simulation ist? Traum und Wirklichkeit sind bei Matrix klar voneinander getrennt, anders als etwa beim literarischen Vorbild der Filme aus den sechziger Jahren, namens Simulacron-drei . Da ist sich der Held nie sicher, ob über seiner Welt nicht doch noch eine andere Welt existiert, die womöglich dann die wahre ist oder eben nicht.«
Der Doktor ist wie immer, wenn er doziert, begeistert von seinem Stuhl aufgesprungen und fuchtelt mit seiner Brille herum. Stand dieses Buch nicht auch im Hipster-Schulungsraum?
»Du meinst also, ich kann mir auch nicht sicher sein, ob ich nicht vielleicht ein Klon oder Replikant bin, erschaffen von jemandem, den ich nicht kenne, zu einem Zweck, den ich nie herausfinden werde?«, frage
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