Lehmann, Sebastian
ich.
»Ihr seid alle vollkommen verrückt geworden«, mischt sich Kurt als Stimme der Vernunft und schlechten Laune wieder ein. »Langsam hab ich echt keine Lust mehr auf solche bescheuerten …«
»Es gibt nur eine Möglichkeit, herauszufinden, was hier mit uns passiert«, unterbricht ihn Christina und wirft ihre Kippe in die Spüle, in der sich das schmutzige Geschirr stapelt. Es zischt leise. »Wir müssen noch mal zurück zur Rütli-Schule.«
Wir sehen alle zu ihr hin, sie wirkt ernst und entschlossen, und es ist jedem von uns klar, dass sie recht hat – und dass wir alle mitgehen werden.
»Aber nicht heute Nacht, sondern morgen, wenn Schule ist. Alles andere wäre wirklich zu gefährlich«, fährt sie fort.
Sogar Kurt wagt nicht zu widersprechen, und wir beschließen, uns noch ein paar Stunden hinzulegen und dann zur Rütli-Schule aufzubrechen.
Statt ebenfalls schlafen zu gehen, quetsche ich aber den Doktor aus, was er in Tiergarten so vorhat. Vielleicht wird ja doch was aus meinem Artikel. Und tatsächlich weiß er noch von ein paar anderen Orten, die nach Gentrifizierung und Szeneviertel riechen. Er scheint den Stadtteil, in dem ich seit Jahren wohne, inzwischen besser zu kennen als ich.
Schnell hole ich mir Christinas Laptop und schreibe den Artikel. Einfach so. Als wäre das nicht das erste Mal. Gut, ich brauche dafür die restliche Nacht, aber immerhin. Zwischendurch höre ich hin und wieder, dass Kurts Baby offensichtlich nicht mehr ganz so friedlich schläft – ich glaube, bei dem Krach können die anderen ebenfalls kein Auge zumachen. Und während draußen vor dem Küchenfenster die Sonne wie immer malerisch über Neukölln aufgeht, maile ich den fertigen Text an Javier und an den Boss. Zumindest ein Punkt auf meiner Liste ist erledigt.
Danach schreibe ich den Praktikanten noch, dass ich heute wahrscheinlich wieder nicht ins Büro komme, jedoch vollstes Vertrauen in ihre außerordentlichen Fähigkeiten habe. Das wird sie sicher freuen. Vielleicht ist es ihnen inzwischen auch egal, und sie haben meinen Job längst übernommen.
Als ich endlich den Laptop zuklappe, steht Christina in der Küchentür und lächelt mich an. Ich weiß immer noch nicht, was sie wirklich über die Klongeschichte denkt und ob sie mich für übergeschnappt hält. Ich weiß ja selbst nicht, was ich davon halten soll.
»Ich glaube, ich gehe zurück nach Konstanz.«
Für einen Moment bin ich wie ausgeschaltet, kann gar nichts denken, weil ich das alles nicht glauben will. Eigentlich hatte ich schon damit gerechnet, auch wenn ich es mir nicht eingestehen wollte. Und natürlich frage ich mich wieder, ob unser Aufeinandertreffen und damit unsere ganze Beziehung vielleicht auf etwas »Unechtem«, oder wie man das nennen soll, beruht.
»Falls es Konstanz wirklich gibt«, fügt sie lächelnd hinzu, wobei sie trotzdem traurig und unsicher wirkt. So habeich sie noch nie gesehen, als hätte sie gar nicht geschlafen, sondern nur darüber nachgedacht, wie sie mich auf ihren Berlin-Fluchtplan vorbereiten soll.
»Ich sage jetzt noch einen blöden Satz: Es hat nichts mit dir zu tun.« Sie versucht wieder zu lächeln.
»Wahrscheinlich weiß ich wirklich nicht genau, was ich will«, sage ich und gehe zu ihr, »aber ich versuche, es herauszufinden. Vielleicht komme ich einfach mit.« Es überrascht mich selbst, dass ich das sage. Aus Berlin weggehen, das hört sich fast unmöglich an. Ich kenne niemanden, der je aus Berlin weggezogen ist, alle ziehen immer nur hierher, selbst die Touristen scheinen einfach dazubleiben. Wie die Matrix, man kommt nicht so einfach aus ihr raus – und wer weiß, was da draußen auf einen wartet? Mit Christina weggehen hört sich dagegen nicht ganz so verrückt an, das kann man schon machen. Auch wenn ich eigentlich nicht der romantische Typ bin. Aber vielleicht kommt das mit dem Alter.
»Irgendwie kriegen wir das bestimmt hin.« Das sind ja ganz neue Töne von mir, denke ich, als ich es ausgesprochen habe. Gar nicht hysterisch oder verwirrt. Vielleicht werde ich doch noch irgendwann so was wie erwachsen. Und an die bescheuerte Klonsache will ich einfach nicht mehr denken, das ist doch alles vollkommener Wahnsinn.
Christina wirkt erleichtert, und wir umarmen uns lange. »Aber erst müssen wir noch einmal zurück zur Rütli-Schule und alles aufklären.«
Ich nicke und küsse sie.
»Wir stören nur ungern«, sagt Kurt süffisant, der auf einmal zusammen mit Dr. Alban in der Küche auftaucht, »aber wir
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