Lehmann, Sebastian
sehe ich den Stoffbeutel, der an der Küchentürklinke hängt. Er ist von Rewe. Prince Ital Joe bedient allerdings mit seinen Rastalocken und dem lila Batik-T-Shirt einen ganz anderen Style, nur ich sehe aus wie ein prähistorischer Neukölln-Hipster. Das war mir bis jetzt gar nicht aufgefallen, aber jetzt – angesichts der frisch geschlüpften Klonhipster – ist es ziemlich offensichtlich.
Erschöpft setze ich mich in die erste Reihe der Schulbank. Mir ist ziemlich übel und schwindlig. Bin ich vielleichtso etwas wie der Mutter-Hipster? Haben sich die Rütli-Jugendlichen für die Produktion der Neu-Hipster an unserem alten Video orientiert und sehen deswegen alle Neuköllner so aus? Werden sie mich deswegen verschonen und nicht umbringen oder was weiß ich mit mir machen? Oder wollen sie gerade den Mutter-Hipster aus dem Weg räumen, damit niemand merkt, dass in Neuköllns Straßen nur Klone rumlaufen?
»Warum zeigt ihr denen unser Video?«, frage ich schwach und deute auf den Bildschirm im Hipster-Nachhilfe-Raum.
»Der Chef wählt die immer aus, keine Ahnung, von wem das ist«, sagt der erste Agent Smith genervt. Oder ist es der zweite? Ich kann die beiden inzwischen gar nicht mehr auseinanderhalten.
»Ist euer Chef zufällig ein nervöser Hip-Hopper mit bunter Basecap und viel zu großen Hosen?«
»Jetzt halt endlich mal dein Maul«, mischt sich der andere ein. »Langsam hab ich wirklich genug von euch, immer müsst ihr reden und reden und macht dann doch nichts. Und eure bescheuerten Stoffbeutel, vollkommen unpraktisch. Warum nehmt ihr keine normalen Taschen oder so schöne Einkaufswägelchen, die man hinter sich herziehen kann? Und diese engen Hosen – sieht fast aus, als wolltet ihr reiten gehen. Dann alle Hemden und T-Shirts drei Nummern zu groß kaufen, wie soll denn das zusammenpassen, unten eng und oben weit? Entscheidet euch doch mal! Oder kauft einfach einen schönen Kapuzenpulli, das ist doch eh viel praktischer und gibt’s voll billig bei C&A in den Neukölln Arcaden.« Smith eins oder zwei kommt immer näher, sein Kopf ist jetzt direkt vor meinem, trotzdem schreit er inzwischen fast: »Aber am scheußlichsten sind wirklichdiese riesigen Brillen, ihr seid ja alle sowieso schon ziemlich hässlich, so dürr, ohne Muskeln und keine normale Frisur, aber mit diesen Riesendingern seht ihr wie die allerletzten Idioten aus. Ihr nervt wirklich wahnsinnig! Deswegen haben wir jetzt ein Abkommen mit den Jugendlichen in Tiergarten abgeschlossen und verkaufen unsere hässlichen Hipster dorthin. Die wollen auch mal ein bisschen Gentrifizierung abbekommen.«
Agent Smith wendet sich angewidert von mir ab. Also deswegen die Verschleppungsaktionen, die Rütli-Jugendlichen haben Tiergarten als nächstes In-Viertel ausgewählt. Und ein bisschen Gentrifizierung, ein paar schöne Cafés und gute Bars würden meiner Nachbarschaft wahrscheinlich wirklich guttun. Heißt das, dass in Tiergarten bald auch alle aussehen wie ich vor zehn Jahren?
Ich lege meinen Kopf auf die kühle Tischplatte. Inzwischen ist mir kotzübel, das Klassenzimmer dreht sich, und die Smiths verschwimmen vor meinen Augen zu einer zähen Kapuzenpullimasse. Ich richte mich schwerfällig wieder auf und sehe mich hinter der Glasscheibe auf dem Bildschirm, wie ich an meinem billigen Keyboard sitze, dämlich grinsend, die ganzen Hipster-Klone davor, mich ebenfalls grinsend anstarrend.
In diesem Moment betritt jemand Großes und Schlaksiges das Klassenzimmer, geht nervös lächelnd auf mich zu, in seiner Hand einen riesigen bunten Baseballschläger. Aber dann knalle ich von meinem Sitz auf den Boden – und bevor ich wieder in Ohnmacht falle, höre ich noch seine Stimme:
»Ey, krass, Scheiße, Alter, was machen wir denn jetzt mit dem, Mann?«
19
Matrix
Ich liege auf dem dreckigen Boden des U-Bahnhofs Kurfürstenstraße. Ein Déjà-vu. Oder doch ein Fehler in der Matrix?
»Aufgewacht?«, brummt Kurt. Tatsächlich Kurt. Wo kommt der jetzt her? Er beugt sich über mich, seine Augenringe sind riesig und dunkel, scheinen die ganze obere Hälfte seines Gesichts einzunehmen.
Ich hebe meinen Kopf. Unnötig zu erwähnen, dass die Kopfschmerzen noch schlimmer geworden sind, ich hätte nicht gedacht, dass das noch geht. Irgendwann würde ich gern mal in meinem eigenen Bett aufwachen. Oder in Christinas. Vielleicht ist sie ja auch hier, ich drehe meinen schmerzenden Kopf weg von Kurts Augenringen und suche den U-Bahnhof ab. Einzig ein Kinderwagen steht neben
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