Lehmann, Sebastian
drückt auf den Lichtschalter, und die Neonröhren an der Decke springen flackernd an. Jetzt erkenne ich auch, was sich in den Reagenzgläsern befindet – es sind Menschen. Einige tragen Stoffbeutel.
Völlig entgeistert laufe ich zwischen den Reagenzgläsern hin und her und betrachte die ausnahmslos gutaussehenden Menschen, die darin in einer undefinierbaren Flüssigkeit schwimmen. Einige sehen aus wie ganz normale Neukölln-Hipster mit Undercut-Frisur und Oversize-Shirt, andere sind fast nackt und tragen noch nicht einmal Röhrenjeans. Was soll das alles? Fragend blicke ich die Smiths an, die, gelangweilt auf ihre Baseballschläger gestützt, an der Tür stehen.
»Wir stellen im Keller der Rütli-Schule Neukölln-Hipster-Klone her«, sagt Smith 2 schließlich. »Wir hatten keine Lust mehr auf die ganze Medienaufmerksamkeit von wegen Problembezirk und so. Dieser Buschkowsky ist wirklich nervig. Deswegen haben wir die Gentrifizierung erfunden.«
»Gentrifizierung erfunden?«, falle ich wieder in meinen alten Wiederholungsmodus.
»Außerdem verdienen wir einen Haufen Geld, weil wir das Späti-Monopol in Neukölln halten und jeden Tag umgerechnet fünftausend Barrel Club Mate verkaufen«, ergänzt sein Kollege, meine Frage ignorierend, und lacht ein blechernes Lachen. »Aber inzwischen kommen immer mehr normale Menschen nach Neukölln, weil der Sex mit den Klonen so gut sein soll und die Club Mate so billig ist.«
»Das ist doch …«, fange ich einen Satz an, weiß dann aber gar nicht, wie er weitergehen soll.
Smith 2 deutet auf einige seltsam aussehende Exemplare hinter der Tafel, die ich bis jetzt noch nicht gesehen habe. »Das sind unsere missglückten Hipster-Klone. Die verkaufen wir als spanische Touristen nach Kreuzberg.«
Dann erst sehe ich die riesige Glasscheibe an der Rückseite des Klassenzimmers. Dahinter sitzen mehrere noch sehr jung wirkende Hipster in einem weiteren Raum, vollgestellt mit Regalen, alten Sofas und bequemen Sesseln, die direkt vom Sperrmüll zu kommen scheinen, und schauen sich auf einem großen Bildschirm einen Film an. Gerade läuft, glaube ich, die letzte Szene von Wes Andersons Darjeeling Limited .
»Sie können uns nicht sehen«, sagt Smith eins und deutet auf die Röhrenjeansträger hinter der Glasscheibe. »Für sie ist die Glasscheibe ein Spiegel, in dem sie sich auch ständig angucken und ihre Frisur prüfen.
Smith zwei grinst. »Diese hier sind gerade geschlüpft und bekommen zwei Wochen lang eine Art Crashkurs im Hipster-Kanon.«
Ich betrachte die Regalwände, die an den Wänden des Sperrmüllsesselraums stehen. Sie sind vollgestellt mit DVDs, Büchern und Schallplatten. Einer der Neu-Hipster zieht gerade eine Platte heraus, ich erkenne das Cover des letzten Sikhs-on-Speed-Albums, das mir Dr. Alban kürzlich ausgeliehen hat. Er stellt sie wieder zurück, legt stattdessen die neue Smashing Schönheit auf einen alten Plattenspieler, setzt sich riesige silberne DJ-Kopfhörer auf und beginnt sich versonnen und mit geschlossenen Augen zur Musik hin und her zu wiegen. Ich versuche die Namen der Bücher in den Regalen zu entziffern. Bret Easton Ellis’ Less than zero in der Achtziger-Jahre-Originalausgabe kann ich erkennen,irgendwas von Rainald Goetz, Überwachen und Strafen von Michel Foucault, Jeffrey Eugenides’ Die Liebeshandlung , Kafka und sogar den ersten Band der Twilight -Saga. Daneben stehen DVD-Boxen mit Filmen von Jean-Luc Godard, Miranda July und Lars von Trier. Und natürlich die drei Teile Zurück in die Zukunft .
Auf der Leinwand beginnt gerade ein neuer Film. Nein, es ist kein Film, sondern ein Musikvideo. Ich traue meinen Augen kaum, als ich erkenne, dass das wir sind. Prince Ital Joe beginnt gerade zu singen, dann zoomt die Kamera auf meine seltsame Frisur. Die Hipster-Klone schauen sich tatsächlich das erste Stereotypen-Video an, das Christina kürzlich auf Facebook gepostet hatte. Mir fällt auf, dass ich – also mein Ich von 2003 – gar nicht so anders aussehe als jetzt. Ich trage ein riesiges T-Shirt, zwar kein original Over-Size-Shirt, sondern einfach ein viel zu großes, denn es gehörte eigentlich meinem damaligen eins sechsundneunzig großen Mitbewohner, und die klobigen Hip-Hop-Turnschuhe an meinen 2003er-Füßen sind ja seit neustem auch wieder hip. Selbst meine Hose ist fast so eng wie eine echte Röhrenjeans, weil damals, als ich von zu Hause ausgezogen bin und plötzlich selbst waschen musste, alle meine Hosen eingegangen sind. Und dann
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