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Lehrerkind

Lehrerkind

Titel: Lehrerkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastian Bielendorfer
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Ich würde ihnen bei der nächsten Gelegenheit einen Löffel WC-Frisch in den Kaffee rühren.
    Unvermittelt klatschte meine Mutter in die Hände und alle begannen zu singen. Der gesamte Kanon deutscher Geburtstagsliedkultur wurde pflichtbewusst heruntergejodelt, beginnend mit dem obligatorischen »Happy birthday to you« und bis hin zum allseits bekannten und immer wieder Durchfall auslösenden »Heute kann es regnen, stürmen oder schnei’n«. Es fühlte sich banal und kalt an, wie ein Ausschnitt aus der volkstümlichen Hitparade. Alle sangen ihr Soll ab und waren froh, als der Mist endlich vorbei war.
     
    Alle, bis auf meine Eltern. In ihren Augen war echte Rührung zu erkennen. Vielleicht war es für sie eine Art Mini-Kommunenrevival. Die Stimmung war ja auch ähnlich herzlich wie zwischen Langhans und Obermaier am Ende ihrer Rudelbumsphase: Aus Hippieträumen wurde verbrannte Erde.
    Und mitten in diesem Durcheinander falscher Freundlichkeiten saß ich. Das mittlerweile vollgeschwitzte Hütchen war seitlich an meinem Kopf entlanggewandert, und eine dicke Träne rann still über meine Wange. Plötzlich stand Cem Söngül auf, ging wortlos um den Tisch herum und schloss mich in seine kleinen Arme. Er klopfte mir auf den Rücken und drückte mich an sich, er roch nach Kernseife und Wachsmalstiften. In seiner Umarmung lag etwas eigenartig Wahres, es hatte wohl nur er verstanden, dass ich lieber allein in einer Raumkapsel durchs Weltall geschwebt wäre, als mit diesen schrecklichen Kindern auch nur einen Nachmittag verbringen zu müssen.
     
    Die sonderbare Ruhe dieses Augenblicks wurde vom schrillen Klingeln unserer Türglocke zerstört. Meine Mutter öffnete die Tür, und Thomas Löfflers Mutter Roswita trat in den Hausflur. Sie hatte verweinte Augen und war voll wie ein Staudamm. Thomas sprang von seinem Stuhl auf und rannte mit einem Stück Torte in der Hand auf sie zu. Mutter Löffler gurrte nur ein betroffenes »Verloren« und schloss ihren Sohn, der wie auf Knopfdruck ebenfalls anfing zu heulen, in ihre Arme. Schalke hatte sich mit 3:0 im Ruhrpottderby gegen den Intimfeind Borussia Dortmund blamiert und war somit auf einen Abstiegsplatz gerutscht. Für die Löfflers ein Anlass zur Lebenskrise. Meine Eltern, deren einzige Berührung mit dem Thema »Sport« darin bestand, mir über die Jahre dabei zuzusehen, wie ich mich beim Versuch, Fahrrad zu fahren, zu skaten oder schlicht zu gehen, immer wieder schwer verletzte, konnten wenig Anteilnahme an der Tragik der Löfflers empfinden und standen fassungslos im Türrahmen. Mein Vater brummte ein halb ironisches »Unser Beileid« und schloss irritiert die Tür. Das konsternierte Kopfschütteln meiner Eltern entging auch mir nicht, und für einen kurzen Augenblick sah ich ein, dass ich es mit diesen beiden irren Weltverbesserern gar nicht so schlecht getroffen hatte.
    Nach dieser generationenübergreifenden Demonstration sozialer Inkompatibilität verblieben nur noch Cem Söngül, die Shining-Zwillinge und ich am Tisch und starrten wortlos auf die Überreste der Geburtstagstorte. Alf lag zerstückelt inmitten eines sahnigen Trümmerfelds. Plötzlich quiekte Lotte einen eigenartigen Tierlaut, auf ihrer Hand hatte sich eine Reihe roter Punkte gebildet, die sich im Sekundentakt vervielfachten und langsam an ihr hochwanderten. Ihre Schwester sah sie kurz mit gläsernen Puppenaugen an und stellte dann an sich selbst eine ähnliche Maserung fest. Schließlich prangte an ihrem Kopf ein rotbrauner Fleck, der wie der Umriss Italiens aussah.
    »Schau mal, wie ein kleiner Gorbatschow«, sagte mein Vater und lächelte meine Mutter an, die den beiden Shining-Zwillingen fassungslos bei ihrer Transformation zu menschlichen Streuselkuchen zusah.
    »Waren da Nüsse im Kuchen?«, gellte Lisa und zerteilte mit ihrer Plastikgabel verächtlich ein paar Überreste des trockenen Gebäcks.
    »Nüüüüüsssse«, echote Lotte hinterher. Schade, dass die Allergie ihnen nicht auch die Stimmen nahm.
     
    Pünktlich zur Totalkatastrophe standen dann die Eltern der Zwillinge vor der Tür. Als meine Mutter ihnen die Tür öffnete, brandete ihr eine Duftwolke aus feuchter Erde und Brottrunk entgegen. Fennermanns waren extra aus einem anderen Sonnensystem angereist. Herr Fennermann war hager wie ein abgekautes Grillhähnchen und hatte sich die lang gewachsenen Haare über die Halbglatze gekämmt, während seine Frau aussah wie der Undertaker mit Brüsten.
    »Sind die Kinder da?«, fragten die beiden

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