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Lehrerkind

Lehrerkind

Titel: Lehrerkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastian Bielendorfer
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Pappe besoffen an, während Vater seiner Begeisterung über das schulische Völkerverständigungsprojekt kaum mehr Herr wurde.
    »Außerdem sind wir herzlich eingeladen worden, mein Freund Sergej wird uns in Schachty beherbergen.«
    »Wer ist denn jetzt auf einmal dieser Sergej?«, wollte meine Mutter wissen – und allmählich dämmerte ihr anscheinend, dass es sich bei der Sache ganz und gar nicht um einen Scherz handelte.
     
    »Sergej Lokosimov, mein guter russischer Freund. Er ist derzeit zu Besuch in unserer Schule, einige seiner Schüler durfte ich schon kennenlernen, alles sehr bemerkenswerte junge Leute.«
    Wie mein Vater das »bemerkenswert« betonte, machte meine Mutter und mich stutzig. »Bemerkenswert« ist ein ziemlich wertfreier Begriff. Ein Mann, der sich eine brennende Cervelatwurst in die Nase schiebt und dann die Nationalhymne auf der Blockflöte spielt, kann als »bemerkenswert« gelten, Einstein oder Stephen Hawking aber ebenso.
    »Und was sollen wir da?«, nörgelte ich. Ich war gerade fünfzehn geworden, und pünktlich zu meinem Geburtstag war meine Kein-Bock-Haltung in Totalverweigerung und ein dauerhaftes »Leckt mich doch alle mal am Arsch!« umgesprungen.
    »Schön, dass du das fragst!«, ignorierte mein Vater völlig meinen vorwurfsvollen Ton und besann sich darauf, seinen Vortrag mit weiteren Folien zu illustrieren. Er benahm sich, als wollte er Nerventonika an senile Senioren verhökern.
    »Schachty hat so viel zu bieten, zum Beispiel die Nachbarstadt Rostow, eine riesige Metropole, der noch der Atem der Vergangenheit aus jeder Pore quillt.«
    Obacht: Meist ist es nicht gut, wenn die größte Attraktion einer Stadt darin besteht, in der Nähe einer anderen, vermeintlich besseren Stadt zu liegen, dachte ich.
    Die blumige Metaphorik meines Vaters hatte ganz offensichtlich verschleiern sollen, dass er sich den abgelegensten Winkel Russlands ausgesucht hatte, in dem schon die Geburt eines Eselchens ein Medienereignis war. Aber das wurde uns allen leider erst klar, als wir drei Wochen später am Flughafen das Flaggschiff der russischen Fluglinie »Aeroflot« bestaunen durften. Das, was mein Vater uns dort als »Musterbeispiel sowjetischer Ingenieurskunst« präsentierte, sah aus, als hätte man es gerade aus einem Aeronautikmuseum in die Vorhalle des Düsseldorfer Flughafens geschoben.
    Sergej Lokosimov quittierte unsere schockierten Gesichter nur mit einem Schmatzen. Bis zum heutigen Tag bin ich mir nicht sicher, ob der Mann, den mein Vater uns damals als seinen guten Freund Sergej vorstellte, überhaupt so hieß, geschweige denn, ob es sich wirklich um einen russischen Lehrer oder vielmehr um einen schwer verspäteten russischen Spion handelte, der sechs Jahre nach Mauerfall noch nicht die Devisen für seine Rückreise zusammengekratzt hatte. Sergej Lokosimov war kein Mann großer Worte, eigentlich war er gar kein Mann von Worten, alles, was er sagte, setzte sich aus Schmatz- und Nuschellauten zusammen. Sergej wirkte mit seinem dicken braunen Bart und der Fellmütze ein wenig so, wie sich deutsche Senioren in Anlehnung an Ivan Rebroff den modernen Russen vorstellten.
    Die Tupolew war entgegen der sonstigen fliegerischen Gegebenheiten der Neunzigerjahre nicht mit Turbinen, sondern mit Propellern ausgestattet. Sergej schmatzte uns dazu gleich wieder eine Erklärung, die er mit einer hackenden Handbewegung illustrierte. Mein Vater übersetzte das, was er verstand, obwohl ich mir selbst heute noch nicht sicher bin, ob mein Vater überhaupt russisch spricht oder einfach nur versucht, Sinnzusammenhänge zwischen Phonetik und Mimik des Betroffenen zu deuten.
    »Sergej sagt, dass diese Flugzeuge nicht abstürzen können. Selbst wenn ein Vogel ins Triebwerk fliegt, würde ihn der Propeller einfach kleinhacken.« Sergej machte, während mein Vater übersetzte, weiter seine Guillotinengeste, und ich stellte mir eine Graugans vor, die geschreddert an uns vorbeiflatterte. Sergej hätte auch mit Fackeln jonglieren oder mit einem Revolver in die Kabinendecke schießen können, mulmiger hätte uns nicht mehr werden können.
    »Ich würde mir auch dann Sorgen machen, wenn nix ins Triebwerk fliegt«, murmelte meine Mutter und kniff meinen Vater dabei in den Arm.
    Ich stand einfach nur daneben und war in meine totale Ablehnung von wirklich allem vertieft.

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