Lehrerkind
Als das nicht funktionierte, zog er seinen Sitzgurt fester.
Die meisten hätten wohl Todesangst gehabt, ich verließ mich einzig und allein auf die stille Ruhe meiner Mutter, die immer noch wie ein Obelisk auf ihrem Sitz ausharrte und so tat, als würde sie über das Fernsehprogramm lachen.
Die alten Frauen falteten die Hände, der orthodoxe Priester brüllte irgendwelche unverständlichen Beschwörungsformeln, und der Servierwagen schoss in Höchstgeschwindigkeit an unserer Sitzreihe vorbei. Die Zeit schien stillzustehen, das wild umherwackelnde Flugzeug beschrieb eine enge Linkskurve und fing sich dann plötzlich. Auf einmal herrschte Stille. Der Sturm war vorbei, das »Musterbeispiel sowjetischer Ingenieurskunst« setzte fast lautlos zum Landeanflug auf den Flughafen Rostow an.
Als wir aufsetzten, brandete eine Welle aus Beifall und Jubelschreien durch die uralten Flugzeuginnereien, wir waren dem kalten Griff der Katastrophe noch einmal entschlüpft. Selbst die Stewardessen, deren betoniertes Lächeln ebenso stramm angelegen hatte wie ihre hautengen Kostüme, erlaubten sich ein Seufzen.
Meine Mutter nahm in aller Ruhe ihre Jacke aus dem Handgepäckfach, reichte mir meinen Rucksack und verließ dann in Tiefenentspannung die Tupolew. Das ist vielleicht meine prägnanteste Erinnerung an die Liebe meiner Mutter, ein Gedächtnisdestillat, das mir von dieser Situation geblieben ist. Als wir auf die Gangway stiegen, fiel sie nämlich plötzlich auf die Knie, und die Maske der Ruhe, die sie für mich aufgesetzt hatte, zerbrach in einem Sekundenbruchteil. Die Tränen der Erleichterung schossen aus ihren Augen. Erst da wurde mir, der ich immer noch gebannt meinen Gameboy umklammert hielt, klar, wie viel Überwindung es sie gekostet haben musste, mir das Gefühl zu geben, alles sei in Ordnung, während unsere Maschine wie ein Sonnenstrahl dem Erdboden entgegenraste. Nach ein paar Minuten, selbst mein Vater war von dem Gefühlsausbruch meiner Mutter überrascht und schloss sie in die Arme, hatte sie sich wieder gefangen und unsere lehrreichen vierzehn Tage in der Fremdheit der russischen Pampa konnten beginnen.
Familie auf Russisch
Erst aber sollte eine vierstündige Odyssee durch das Flughafengebäude folgen. Die übrigen Fluggäste, die eindeutig russischer Herkunft waren, wurden von den Flughafenbeamten mit einem kurzen, zustimmenden Nicken bedacht, während wir als Westdeutsche und damit ehemalige Klassenfeinde erst einmal unter Generalverdacht standen. Der einzige Grund, warum uns nicht wirklich jeder Angestellte des Flughafens mit einem Gummihandschuh ins Poloch fasste, war, dass sich Sergej lauthals ereiferte, und als das nichts nützte, einfach jeden zweiten Beamten bestach.
Hinter den Kontrollen wartete schon Sergejs Familie darauf, uns in Empfang zu nehmen. Wobei der Begriff »Familie« auf Russisch einen etwas weiteren Personenkreis zu umfassen schien als auf Deutsch. Bei unseren russischen Gastgebern bildete sich das Empfangskomitee aus fünf Generationen von Lokosimovs, von der neugeborenen Oxana bis zur greisen Babuschka Maja, auf deren faltigem Körper ein noch faltigeres Gesicht mit zwei hellwachen Knopfaugen thronte. Außerdem waren alle Onkel, Tanten, Neffen und Cousinen, Schwager, Schwippschwager, Nachbarn sowie ein paar handverlesene Bekannte angereist. Insgesamt mussten es wohl an die hundert Leute sein, wobei manche wohl einfach umstehende Flughafengäste waren, die sich den Besuch aus dem weit entfernten Deutschland genauer anschauen wollten. Alle hielten ein kleines Geschenk in der Hand, das uns dann wild händeschüttelnd überreicht wurde.
Nach einem Marathon an Begrüßung, Umarmung, Kneifen in die speckige Wange und nochmaligem Tätscheln aller Gliedmaßen war meine Familie gänzlich in einen Wust aus Geschenkpapier versunken, und jedes Präsent musste unter den wachenden Augen des jeweiligen Familienmitglieds geöffnet werden. Mitten in der Ankunftshalle des Flughafens! Am Ende hatten wir den halben Konsumapparat des ehemaligen Ostblocks vor uns ausgebreitet. Es gab Unmengen an zärtlich verpackten groben Leberwürsten, Teekochbestecken, selbst gestickten Kochlappen und Matrjoschka-Puppen. Außerdem gab es Unmengen an Kartoffelschnaps, also Wodka, wobei auch ich einige an mich adressierte Flaschen unter dem Geschenkehaufen ausmachen konnte. Mein Vater versuchte schon gar nicht mehr, sie mir zu entreißen, der drohende Zeigefinger von Sergej wartete in Bereitschaftshaltung. Dann
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