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Lehrerkind

Lehrerkind

Titel: Lehrerkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastian Bielendorfer
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nicht einmal übel nehmen konnte.
    Als Herr Freke in Rente ging, um fortan zu Hause mit dem Overheadprojektor seine Familie zu quälen, kam jene zweite Ausprägung der Spezies Kunstlehrer vom Sternbild Andromeda in unser Klassenzimmer geschwebt. Sie hieß Hilde Dolde-Lacroix und erinnerte in ihren goldenen Seidengewändern und dem feuerroten Haar ein wenig an eine explodierte Currywurst. Nicht nur Frau Dolde-Lacroix´ multinationaler Doppelname war außergewöhnlich, auch sie selbst schien der Menschheit im Verhältnis zum bodenständigen Herrn Freke ein wenig entschwebt zu sein. Als sie das erste Mal den Klassenraum betrat, trug sie einen Walkman mit umgehängten Kopfhörern und sprang freudig erregt aufs Lehrerpult zu. Diese Mary Poppins auf LSD bot ganz allgemein einen großen Kontrast zu den ansonsten eher schlaffen Pädagogen, bei denen jede Bewegung wie ihre letzte wirkte.
    Frau Dolde-Lacroix war über und über mit Schmuck behängt, jede ihrer Bewegungen schickte ein leises Klirren durchs Klassenzimmer. Ihr fiel wohl auf, dass wir sie mit einiger Verwunderung ansahen, auch weil wir uns nicht sicher waren, ob wir versehentlich im Tantra-Seminar der Volkshochschule Gelsenkirchen gelandet waren.
    »Ach, ihr schaut auf meine Ringe«, missinterpretierte sie unser Starren. »Das sind Stimmungsringe, die zeigen immer an, wie ich mich gerade fühle. Heute fühle ich mich gemischt, also haben alle eine andere Farbe!«
    Obwohl Frau Dolde-Lacroix mit einer Stimme gesegnet war, die klang, als hätte sie die letzten dreißig Jahre mit Oskar aus der Tonne altes Laub geraucht, war sie eine erheiternde Abwechslung. Erstens fand sie, dass Schulnoten nur »hilflose Kategorisierungsversuche eines autoritären Systems« seien, zweitens machte sie eigentlich keinen Unterricht, sondern empfahl uns, dass wir uns selbst finden und das Ergebnis zu Papier bringen sollten. Währenddessen trank sie selbst gezogenen Kombucha aus einer Bambusschale und las die »taz«.
    Natürlich musste sich auch Frau Dolde-Lacroix zumindest oberflächlich den Gepflogenheiten eines deutschen Gymnasiums beugen, deshalb ging ein entsetztes Ächzen durch die Klasse, als sie einmal unseren Selbstfindungsprozess unterbrach und den verhassten Overheadprojektor aus der Versenkung holte.
    »So, heute interpretieren wir mal ein paar Gemälde. Was ist das?«, fragte sie aufmunternd und zeigte uns das Bild einer Waldlandschaft, inklusive röhrendem Hirsch in der Mitte.
    »Ein Hirsch im Wald«, meldete sich Bernhard Lochmann, der Klassenstreber, der die Angewohnheit hatte, auch rhetorische Fragen zu beantworten.
    »Richtig, sehr gut Bernhard, das ist eine Eins«, lobte Frau Dolde-Lacroix und zeigte mit freudig erregt rotglühenden Stimmungsringen auf Bernhard.
    »Was kann es denn noch sein?«, fragte sie überflüssigerweise, denn eigentlich war ja schon alles gesagt.
    »Ein Hühnchen«, versuchte es Yilmaz aus der letzten Reihe, ohne aufzuzeigen. Es war wohl als Scherz gemeint gewesen. Entweder das, oder wir hatten die letzten vier Jahre, ohne es zu wissen, einen blinden Türken in der Klasse gehabt.
    »Auch richtig!«, sagte Frau Dolde-Lacroix. Jetzt war es bewiesen: Wir hatten, ohne es zu wissen, eine blinde Kunstlehrerin.
    »Der Hirsch röhrt, das Huhn gackert, das sind beides Geräusche, also richtig, lieber Yilmaz, das gibt auch eine Eins«, ordnete Hilde den Schwachsinn in anderen Schwachsinn ein (wir waren mittlerweile auf ihren Wunsch hin zum »Du« übergegangen). Bernhard Lochmann betrachtete seine Note nun in einem anderen Licht und blickte betreten auf sein Pult.
    Und so ging es weiter. Hilde akzeptierte jede Deutung. Mein »Kilimandscharo im Sonnenuntergang« wurde genauso mit einem »Sehr gut« geadelt wie das »Spaghetti mit Pommes frites« von Jens Richter, der damit die erste Eins seiner gesamten Schullaufbahn erhielt, wie er danach stolz verkündete. Glückwunsch.

Bildungsreise für Hartgesottene
    »Liebe Familie, in diesen Sommerferien fahren wir nach Russland!« Mein Vater erhob sein Glas mit Apfelsaft, als hätte Honecker gerade eine neue Rekordleistung des Kombinats für Mastsauhaltung bekannt gegeben. Ich kaute weiter lustlos auf meinem Sojaschnitzel und war froh, als meine Mutter die berechtigte Frage stellte:
    »Warum denn Russland, Robert?«
    Ja wirklich, nach diversen kulturgetränkten Aufenthalten in einem Ein-Sterne-Hotel in Venedig und dem Abklappern jeder noch so entlegenen Hallig der deutschen Nordsee, schien nun ein neuer Tiefpunkt

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