Lehrerkind
stand immer noch im Scheinwerferlicht, und das Publikum starrte mich an, die Hosenträger zerschnitten meinen Knabenbusen zu einer Hügellandschaft aus welkem Fleisch, meine Eltern versuchten sich hinter ihren Programmheften unkenntlich zu machen.
Als einer der Schüler »Let it be, heißt Lass es sein, Bielendorfer « brüllte und damit den Gedanken des Publikums Ausdruck verlieh, taten meine Eltern etwas, für das ich ihnen heute noch dankbar bin. Sie applaudierten.
Entgegen der sonstigen Stimmungslage, die irgendwo zwischen Kriegsgebietsempfinden und Weltuntergang pendelte, taten meine Eltern so, als wäre nichts geschehen und mein Auftritt zumindest in den Grenzen des Zumutbaren geblieben. Der Rest des Saals verstummte, vielleicht, weil ein wenig Mitleid mit dem dicken Jungen aufkeimte, vielleicht auch, weil ein wenig Mitleid mit den Eltern des dicken Jungens aufkeimte.
»Super, Bastian, Bravo«, grölte mein Vater der allgegenwärtigen Schockstarre entgegen. Dann schob er beide Finger zum Pfeifen in den Mund und produzierte einen erbärmlichen Schischlaut, der wie der sanfte Furz eines Nutzviehs klang.
Wenigstens ist Musikalität erblich, dachte ich, lächelte meinen Eltern zu, verneigte mich und stieg von der Bühne hinab in Richtung meines Karriereendes als Sängerknabe.
Der Kunstlehrer
Die Spezies Kunstlehrer ist in zwei Lager gespalten: in die nüchternen Analytiker, die so viel Erregungspotenzial haben wie ein Sack voll Bauschaum und am liebsten den ganzen Tag geometrisch korrekte Gebäude zeichnen lassen würden – und in die exotischen Paradiesvögel, die im Sari zur Schule kommen, in der Schulpause meditieren und den Schülern so viel Raum zur Selbstentfaltung geben, dass es ihnen fast schon unheimlich wird.
Unser Kunstlehrer Herr Freke ließ seinen apathischen Blick über das Blatt Papier schweifen, seine hängenden Lider ließen nur einen kleinen Spalt frei, durch den er das Ergebnis meiner Bemühungen abtastete.
»Für ein siebenjähriges Kind wirklich ganz ansprechend. Die Farbgestaltung der Landschaft ist realitätsnah, die Weiden sind grün, der Himmel blau, die Sonne gelb. Die Bäume wirken recht plastisch, du hast dir wirklich Mühe gegeben und sogar einzelne Blätter gemalt. Der Sonne hast du ein fröhliches Gesicht gezeichnet, die Abmessungen des Hundes im Verhältnis zur Landschaft stimmen, sehr schön. Nur weißt du, was mich stört, Bastian?« Herr Freke stellte mir seine Frage mit genau der reizlosen Attitüde, mit der er der Welt schon seit Anbeginn seiner Dienstzeit gegenüberstand.
Ich schüttelte den Kopf. »Was denn?«
»Dass du nicht sieben, sondern vierzehn Jahre alt bist, und deshalb gibt’s eine Fünf plus.«
Er warf mir die Zeichnung, an der ich die letzten zwei Stunden gesessen hatte, auf die zerfurchte Oberfläche des Lehrerpults.
Mit gesenktem Kopf ging ich zu meinem Stuhl zurück, setzte mich und murmelte leise »Arschloch«.
Herr Freke konnte es nicht gehört haben, schreckte jedoch trotzdem einen Augenblick auf und durchfuhr unruhig den Raum, bevor er als Nächstes die Zeichnung eines meiner Klassenkameraden zerriss.
Herr Freke war seit der fünften Klasse mein Kunstlehrer und hatte mich wohl am Ende des Schuljahres immer mit einer Gnadenvier bedacht, weil selbst ihm mit der Zeit klar geworden war, dass der Junge, der da bemüht über Stunden auf seinem Tisch an neuen Kunstwerken bastelte, einfach nicht mehr Potenzial hatte. Ich malte wie ein Schimpanse. Mit den Füßen. Und verbundenen Augen.
Herr Freke war ein besonders lustloses Exemplar der Spezies Kunstlehrer, die Jahre, in denen er dadaistische Zeichnungen von Sonnenuntergängen und blutbesudelte Linoleumschnitte beurteilen musste, hatten ihn schwer gezeichnet. Seine Stunden eröffnete er prinzipiell mit der Interpretation eines Gemäldes, das über einen wackligen Overheadprojektor an die graue Klassenzimmerwand projiziert wurde. »Und jetzt bitte eure Einschätzung zu diesem frühen Werk van Goghs«, forderte er seine Schüler zur Mitarbeit auf. Besonders bei moderner Kunst führten die Deutungsversuche der Schüler (O-Ton Jan Winkler: »Das ist Spongebob, wie er in einem Eimer voll Ketchup badet«) oft zu gesteigerter Heiterkeit im Klassenzimmer. Nur Herr Freke lachte nicht, weil ihm sein Humor irgendwann mal während einer langen Autofahrt verloren gegangen war. Herr Freke lachte nie, jedenfalls nicht in der Schule, was man ihm bei den teilweise desaströsen Schmierereien, die er zu bewerten hatte,
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