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Lehrerkind

Lehrerkind

Titel: Lehrerkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastian Bielendorfer
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der Urlaubsplanung erreicht. Es war das Jahr 1997, das postkommunistische Russland hatte noch den Gefrierbrand des Kalten Krieges zu verkraften, und in meinem Kopf spielte sich eine Horrorvorstellung ab, wie sie wohl jeder durchschnittlich phantasiebegabte Fünfzehnjährige entwickelt hätte: Ich sah mich zahnlosen Bettlern und bewaffneten Straßenpatrouillen ausgeliefert und fürchtete mich schon jetzt vor selbst gebranntem Kartoffelschnaps aus Benzinkanistern. Russland ist bis heute nicht das klassische Ausflugsziel des Pauschaltourismus, und Mitte der Neunzigerjahre war es das noch weniger. Bevor irgendjemand Einspruch erheben konnte, zog mein Vater eine Straßenkarte von Russland aus dem Regal. Sein Finger deutete auf einen riesigen, grauen Fleck: Moskau. Dann glitt sein Finger hinab, an Tula, Kursk und Lugansk vorbei, passierte Millionenstädte, von denen man in der westlichen Welt noch nie etwas gehört hatte, und blieb bei einem stecknadelgroßen Punkt ungefähr 4000 Kilometer tiefer stehen.
    »Schachty«, las ich laut vor. Meine Mutter verdrehte die Augen und wollte schon aufstehen, als mein Vater anfing, uns die Vorzüge dieser entlegenen Kolonie des russischen Großreiches zu erläutern.
    »Ja, richtig, Bastian, Schachty, unsere Partnerstadt. Die bedeutendste Stadt der ehemaligen UdSSR hinsichtlich der Versorgung mit Bodenschätzen. Direkt am wunderschönen Donezbecken im Oblast Rostow.«
    »Erblast Rostock … was ist das denn?«, fragte ich in stiller Erwartung seiner erzürnten Antwort. Insgeheim hatte ich nämlich gehofft, endlich einmal wie andere Familien in einem Robinson-Club im ägyptischen Hurghada von einer Schar von Animateuren genervt und glückliches Opfer eines Sonnenstichs zu werden.
    Aber wenn Lehrer Urlaub machen, tun sie das immer unter Berücksichtigung ihres Bildungsauftrags, und so ähnelten unsere Ferienreisen immer den Dokumentationen des Discovery Channel. Da wurden im holsteinischen Museum Seemannsknoten gelehrt oder der Eiffelturm kunstvoll von unten fotografiert, weil eine Aufzugsbenutzung 20 Franc pro Kopf gekostet hätte.
    Der spezielle Bildungsauftrag meines Vaters begann meist schon vor Urlaubsbeginn, es wurde erläutert, geplant und eine genaue Reiseroute abgesteckt. Kein Meter des Weges sollte zurückgelegt werden, ohne dass zuvor die Besichtigung einer seltenen Baumart oder eines historisch bedeutsamen Toilettenhäuschens geplant worden wäre. (»Hier soll sich schon Goethe bei seiner Kutschfahrt nach Thüringen erleichtert haben, Bastian«). Auch bei der Russlandplanung (ich nannte sein Unterfangen insgeheim den »Russlandfeldzug«) fing mein Vater schon früh damit an, uns in die Geschichte des ehemaligen Weltreiches einzuführen.
     
    »Nicht Erblast Rostock, sondern Oblast Rostow, Bastian. Oblast ist ein Verwaltungsbezirk in Russland, also eine Föderationseinheit mit gering ausgeprägter Autonomie. Der derzeitige Präsident von Russland ist übrigens Boris Jelzin, der erste demokratisch gewählte Präsident des Landes.« Dass sich die Region in der akuten Zersetzung durch Oligarchen, Großgrundbesitzer und verbrecherischen Banden befand, die auch den letzten Eimer voll Tafelsilber unter sich aufteilten, verschwieg er bei seinen Ausführungen. Mein Vater, empathisch wie immer, hatte unseren Einspruch bereits vorausgeahnt und einen kleinen Vortrag samt laminierter Schaubilder vorbereitet. Flugs aus dem Arbeitszimmer herbeigezaubert, schaute uns vom ersten Plakat eine relativ detailgetreue Zeichnung eines weißhaarigen Mannes mit roter Säufernase an.
    »Boris Jelzin habe ich hier mal dargestellt, vielleicht erkennt ihr ihn ja«, erläuterte mein Vater, als wären wir im Bildungsfernsehen. Ich hielt mich mit Kommentaren vorerst zurück – ich war ja schon froh, wenn wir nach seinen Ausführungen keine Klausur über das Thema schreiben mussten. Außerdem kannte ich den Mann nicht, wobei er mir von der Zeichnung spontan sympathisch war. Fröhlich sah er aus, mein Vater hatte sogar seine herzigen Säuferbäckchen rot koloriert. Meine Mutter musste lachen, sie hegte wohl noch immer die Hoffnung, mein Vater mache einen Scherz.
    »Aber warum denn Russland, Robert?«, fragte sie daher erneut.
    »Na ja, wegen der Delegation, Ingrid! Die Schule hat doch derzeit einige Austauschschüler aus Schachty aufgenommen, und von denen ist auch extra eine Delegation mit ranghohen Würdenträgern angereist.« Der ranghohe Würdenträger Boris Jelzin starrte uns von seiner laminierten

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