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Lehrerkind

Lehrerkind

Titel: Lehrerkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastian Bielendorfer
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zuprosten wird, sobald sie den akademischen Betrieb einmal verlassen. Es sei denn, sie malochen in der Frittenbude oder weben sich ein paar Garnfäden ins Haar und verkaufen sich als lebendiger Traumfänger.
    »Someday you’ll join us.«
    Die einzige wirkliche Chance einer Anstellung haben Philosophen im Lehrerberuf, und so sind sie der einzige Teil der Lehrerschaft, der aus akuter Not und nicht aus verblendetem Interesse in den Job geschossen ist. Herr Jochim war ein Paradebeispiel für diese Theorie. Sein Interesse am Schulbetrieb war ähnlich hoch wie das Interesse einer Filzlaus an den Aktienkursen. Die wirklichen Highlights in seinem Leben waren zum einen seine absurde Verehrung des Oberbeatles John Lennon und zum anderen seine Leidenschaft für das Bahnfahren. Bahn fuhr er wahnsinnig gern. Leider durfte er das nicht. Da seine Mutter, die so alt war, dass sie zweimal die Pest überlebt hatte, ihm größere Reisen verbot, musste er sich mit der digitalen Form des Bahnfahrens begnügen. Er zeichnete nachts die »schönsten Bahnstrecken Deutschlands« auf, die das ZDF statt eines Testbildes in der sendefreien Zeit zwischen drei und fünf Uhr zeigte, und schaute sie sich allein in seinem Partykeller an. Dann holte er eine originale deutsche Schaffnerkelle und eine Trillerpfeife hervor und imitierte die Signale, die sonst von einem echten Bahnmitarbeiter beim Einfahren eines Zuges gegeben wurden.
    Woher ich das weiß? Herr Jochim hat es zum Beginn seiner allerersten Unterrichtsstunde selbst erzählt. Das war
    natürlich sozialer Suizid. Er hätte sich auch vor dem gesamten Klassenkörper die Vorhaut an die Stirn nageln oder ein Chanson mit seiner Pofalte singen können, um sich für alle Zeiten unwiderruflich zur armen Wurst zu degradieren.
    Herr Jochim schlappte wie ein Gespenst durch die Schule, ein Gespenst, das niemand sehen konnte und das mit jedem Tag seines Dienstes immer mehr und mehr verblasste. Oft hatte er nicht einmal mehr die Kraft, richtige Schuhe anzuziehen, dann wackelte er in dunkelbraunen Cordpantoffeln durch den Schulflur und sah ein wenig aus wie eine Mischung aus dem Big-Lebowski-Dude und einem umnächtigten Hugo Egon Balder. Er hatte das alles nie gewollt, diese Regeln, diesen Alltag, dieses Martyrium. Er wollte ein richtiger Philosoph werden, wollte im Philosophischen Quartett eingeladen sein oder bei Maischberger diesem Richard David Precht mit seinen revolutionären Thesen mal so richtig den schmierigen Scheitel glattbügeln.
    Er hat zu Hause ein 2000-seitiges Manuskript im Schrank liegen, Hunderte Thesen, Theorien und Diskussionen über alle möglichen philosophischen Themen, die er über die Jahre, in denen sein Dasein wie die farblose Kopie eines richtigen Lebens verstrichen war, angefertigt hatte. Beim Schreiben hatte er »Instant Karma« von Lennon gehört, wieder und immer wieder.
    Er hatte gesehen, wie Lennon an seinem weißen Flügel saß, seine Botschaft mit voller Seele in die Welt herausbrüllte, während Yoko Ono dahinterhockte und mit verbundenen Augen eine Fahne strickte. Dieses 2000-seitige Mammutwerk hatte er vor uns, bevor er völlig verstummte, immer seinen »Absprung« genannt, sein Opus magnum. Es sollte sein Abschied sein, von uns, von der Arbeit und seiner Mutter.
    Doch er hat den Absprung nie geschafft, den Absprung von zu Hause, den Absprung vom Studium, den Absprung von der Schule. Er hat das Manuskript nie verschickt, aus Angst vor Ablehnung. Herr Jochim hätte sich bei schlechtem Feedback direkt vor den ICE geworfen, was zumindest seiner Begeisterung für Züge angemessen gewesen wäre. Er hat sich nicht ins Wasser gestürzt, sondern ist den Zehn-Meter-Turm im Freibad nur hinaufgeklettert, hat einmal über die unglaubliche Tiefe hinter der betonierten Kante geschaut und ist dann wieder hinabgestiegen, hinab in die berufliche und heimische Sicherheit. Hinab zu Herrentorte und Fünf-Uhr-Tee, zurück zur Blumentapete und zu der grauen Dauerwellenwolke, die an den Kopf seiner greisen Mutter gekleistert war. Einmal verspürte er so wahnsinnig viel Willen in sich, so unvorstellbar viel Kraft, dass seine Brust fast in einem Schwall aus Licht zerbarst. Dann setzte er sich wieder hin und schaltete den »Tatort« ein.
    »And the world will be as one.«

Willkommen in der Kommune 1
    Meine Eltern sahen mich an, als wäre ich die kleinste Terrorzelle der Welt.
    »Also, ääh, das kommt jetzt schon überraschend für uns, Bastian«, begann mein Vater den Reigen der

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