Lehrerkind
murmelte er in seinen bräunlichen Bart, der wie eine vergilbte Gardine unter seinen fischigen Lippen hinabbaumelte.
Kassettenrekorder aus, Band umgedreht, Kassettenrekorder wieder an.
Schließlich begann der Rekorder den Evergreen »Imagine« zu knödeln. Die Aufnahme aus den kratzigen Monolautsprechern war eine Zumutung, ich stellte mir vor, wie sich John Lennon entsetzt in sein Grab erbrach.
»Imagine there’s no heaven.«
Herr Jochim wandte sich der Klasse zu, es war das letzte Mal, dass wir ihn für heute sehen würden.
Er trug seinen senfgelben Pullover. Es musste Dienstag sein. Senfgelber-Pullover-Tag in Herrn Jochims Welt, in der mit 55 Jahren immer noch Mutti morgens das Leberwurstbrot schmierte und man abends zusammen mit dem Dackel Else den »Tatort« schaute.
»It’s easy if you try.«
Herr Jochim war Philosophielehrer. Na ja, eigentlich war er mittlerweile eher Tontechniker, seine Unterrichtsstunden bestanden nur noch daraus, dass er den Raum betrat, stillschweigend den Kassettenrekorder hervorholte und »Imagine« von John Lennon laufen ließ. Dann forderte er uns Schüler auf, »mal etwas darüber zu schreiben«, und verließ den Raum. Wo er hinging, war allen ein Rätsel, vielleicht hockte er sich zu den ausgestopften Wieseln in den Bioraum und rauchte Crack, vielleicht setzte er sich einfach nur in seinen alten Opel Admiral auf den Lehrerparkplatz und hörte eine CD der Plastic Ono Band. Fakt ist jedenfalls, dass Herr Jochim nach seiner Arbeitsaufforderung regelmäßig verschwand.
»No hell below us.«
Da wir die Aufforderung, »über ›Imagine‹ etwas zu schreiben«, schon seit Anfang des Jahres immer wieder bekamen, hatten manche strebsame Mitschüler bereits halbe Doktorarbeiten über den Song verfasst. Andere hatten schon beim ersten Hören für sich festgestellt, dass das »Schwuttenmusik« sei, und ihre iPods mit dem neuen Album von Scooter wieder angestellt.
»And above us only sky.«
Herr Jochim war am Leben gescheitert. Oder das Leben war an Herrn Jochim gescheitert. Wie genau er zu so einem orientierungslosen Patienten wurde, der die Schule nur noch aufsuchte, um seine Lieblingsplatte anzumachen, ist nicht genau erklärbar. Vielleicht waren es die Unwägbarkeiten der Philosophie, die ihn und seine didaktischen Bemühungen zermartert hatten.
Philosophie ist nicht plastisch, nichts sinnlich Erfahrbares, wonach sich die Generation »Jamba-Sparabo« so sehr sehnt, sie existiert rein in der Form der Gedanken und ist in Zeiten, in denen der Abstand vom Klick zur Information auf wenige Millisekunden zusammengeschrumpft ist, hoffnungslos veraltet. Wer heute etwas über Philosophie erfahren will, schaut bei Wikipedia und liest bestenfalls die vierzeilige Zusammenfassung eines platonischen Dialogs.
»You may say, I’m a dreamer.«
Vielleicht ist Herr Jochim auch an einer neuen Generation von Schülern gescheitert, einer Generation, die seine Ideale, Interessen und Vorstellungen nicht mehr teilen kann, weil sie gerade auf ihrem Netbook einen Porno anschaut und simultan ihren Facebook-Status in »Schaue Porno im Philosophieunterricht« ändert.
Ich weiß noch, als Herr Jochim statt des Kassettenrekorders mal eine Nanosekunde didaktischer Bemühung aufbrachte und die für ihn geradezu ketzerische Frage
»Wer von euch kennt eigentlich Karl Popper« stellte.
Erst herrschte betretenes Schweigen, das plötzlich von Gökhan Ergül aus der letzten Reihe unterbrochen wurde.
»Kenn ich, ist das nicht der Bruder von Franz Ficker?«
Die Klasse lachte. Herr Jochim senkte den Kopf, man sah, wie das lodernde Flämmchen in seinem Inneren von einem Schwall aus Enttäuschung und Lethargie erstickt wurde. Dann drückte er den Kassettenrekorderknopf und verließ den Raum.
»But I’m not the only one.«
Herr Jochim tat mir leid. Auch wenn er ein pomadiger Pulloverprediger mit der Dynamik einer Baumflechte war, hatte er so was nicht verdient. Kein Philosophielehrer hatte verdient, über »Franz Ficker« diskutieren zu müssen. Nicht nach einem jahrelangen, knüppelharten und knochentrockenen Studium, an dessen Ende, aufgrund sonstiger beruflicher Perspektivlosigkeit, oft der Lehrberuf stand. Das Philosophiestudium wird nur von wahren Idealisten begonnen, von Studenten, die bereit sind, sich semesterlang durch das komplizierteste geistige Mus zu wühlen, das die Menschheit hervorgebracht hat.
Idealisten sind sie, weil sie schon zum Beginn ihres Studiums wissen, dass ihnen die Arbeitslosigkeit
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