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Lehrerkind

Lehrerkind

Titel: Lehrerkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastian Bielendorfer
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Paulas Stall kam, völlige Stille. Meine Eltern waren in der Schule, es war der perfekte Moment. Ich erinnerte mich daran, wie mein Vater beim Mittagessen einmal darüber referiert hatte, dass das eigentliche Hauptthema von Goethes Faust die Erlangung des absoluten Augenblicksgenusses war. Mein Vater erreichte diesen Zustand beim Anhören einer seltenen Beatles-Fehlpressung, meine Mutter bei einem einfachen Spaziergang mit dem Hund. Jetzt spürte ich selbst gerade zum ersten Mal den maximalen Genuss des Augenblicks, und ich konnte kaum loslassen. Die letzten acht Monate waren eine wirklich harte Prüfung gewesen, besonders für einen Turnbeutelvergesser wie mich, der nach der Schule gehofft hatte, als Zivi einfach mal ein wenig ausspannen zu können.
    Nun war mein Zivildienst plötzlich zu Ende, und ich würde überlegen müssen, was ich als Nächstes machen wollte.
    Paula wackelte still an mir vorbei, nur ihr etwas staksiger Gang zeugte noch von ihrer problematischen Ankunft auf der Welt, die jetzt auch schon zwei Monate zurücklag. Schnurstracks durchmaß sie das Wohnzimmer, stellte sich auf die Bodenheizung und kackte so geschickt zwischen die Belüftungsschlitze, dass ich die nächsten Stunden mit dem Putzen beschäftigt sein würde.
    »Och nein, Paula, du bist aber wirklich lernfähig wie eine Amöbe«, murrte ich das Lamm an. Es nahm keine Notiz von meinem Protest und wanderte umgehend wieder in seinen Stall, dessen Funktion als Toilette es wohl noch immer nicht verstanden hatte.
    Wut auf den blökenden Hausgast, auf die Welt UND ÜBERHAUPT stieg in mir auf, und um Dampf abzulassen, griff ich zum Telefon und wählte die Nummer meiner Zivildienststelle. Kurz bevor das gleichmäßige Klingeln durch die Leitung drang, atmete ich einmal tief ein, jetzt war mein Moment der Abrechnung gekommen.
    »Kita Spieledorf, Kowal…«, surrte mir das schwunglose Organ Marcels entgegen. Noch bevor er seinen Namen zu Ende sprechen konnte, unterbrach ich ihn.
    »Ja, Marcel, äh, hallo, hier ist Bastian.«
    »Jo, watt is denn?«, fragte Marcel emotionslos.
    »Ach, ich wollte nur kurz mitteilen, dass ich nie wieder erscheinen werde, also ab heute sitz ich nicht mehr mit dir im Bauwagen!«
    »Aha«, erwiderte er knorrig.
    »Und weißt du, was das heißt?« Ich war jetzt richtig in Fahrt. »Das bedeutet, dass ich dir und Hella von Sinnen endlich nicht mehr bei der Fellatio zusehen muss, dass ich endlich nicht mehr danebensitzen muss, wenn du dämlicher Saftsack deine beknackten Sammelbildchen einklebst«, brüllte ich geladen wie eine menschliche Muskete.
    »Ach«, war seine einzige Reaktion.
    »Ach, sagst du, du komischer Gendefekt? Weißt du was, nimm dir mal Zettel und Stift und schreib’s dir auf, das kannst du dann auch dem Chef mitteilen. Fertig, hast du alles?« Ich knallte den Hörer auf die Telefonstation und war sehr zufrieden mit mir. Das hatte gesessen, das warme Gefühl von Genugtuung stieg in mir hoch. Zum Glück musste ich da nie wieder auftauchen.
    Ich faltete den Brief und legte ihn auf die Fensterbank. Mit dem Gesicht in der Nachmittagssonne saß ich einfach nur da, das Gefühl eigenartiger Selbstherrlichkeit genießend.
    Dann öffnete sich die Tür, und mein Vater kam mit Aktentasche und Jackett von der Schule nach Hause.
    Ich wollte schon aufspringen, ihn glückstrunken in meine Arme schließen und ihm von meiner endgültigen Erlösung berichten, da huschte ein mir bekanntes Lächeln über sein Gesicht.
    »Na, hast du den Brief von Frau Betomskie schon bekommen?«, fragte er wissend und deutete auf das gefaltete Schreiben auf der Fensterbank.
    Ich stand auf, und mit einem Schlag wurde mir klar, dass nicht Paula, sondern ich lernfähig wie eine Amöbe war. Die Wanduhr über seinem Kopf zeigte den Tag meiner Vernichtung an: 1. April.
    April, April.
    Ich nahm mit zitternden Fingern noch einmal das Blatt in meine Hände, und plötzlich war ich wieder acht Jahre alt und stand nur in Pumucklunterhose und blinkenden Adidas-Sportschuhen auf dem Schulhof meiner Grundschule und feierte den Tag der Solidarität für Afrika.
    Meine Eltern haben es wieder getan, dachte ich. Dann wurde mir schwarz vor Augen und ich ließ mich wortlos auf die Couch fallen, während mein Vater seelenruhig einen Apfel zu schälen begann.
     

Der Philosophielehrer
    Herr Jochim drückte den Knopf seines schwarzen Sony-Kassettenrekorders. Mit einem lauten »Knarz« leitete sich die kriselnde Stille des Magnetbands ein.
    »Kacke, falsche Seite«,

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