Lehrerzimmer
möglich, aus dem Weg zu gehen. Sie war zum Glück noch nicht da. Vielleicht hatte sie die erste Stunde frei. Dann erst nahm ich die eigentümliche Atmosphäre im Lehrerzimmer wahr, es herrschte ein Tuscheln ringsum, eine unsichtbare Wolke lag um die Köpfe der Lehrer, die von Hand zu Hand Informationen austauschten. Ich wurde von Kleible mit den Worten begrüßt, die Weißen. Ich nickte ihm zu. Josef hob von weitem bedeutungsvoll die Augenbrauen. Die Bombe ist geplatzt, sagte Renner neben mir, sie haben angerufen. Wer? fragte ich. Die Weißen, sagte Renner. Wen? fragte ich. Den Direktor, sagte Renner. Woher er das wisse? fragte ich. Die Sekretärinnen, sagte Renner, hätten am Nachmittag das Telefongespräch belauscht, die Putzfrau habe später die Sekretärinnen belauscht und ihre Informationen an Josef weitergegeben. Dann betrat Klüting das Lehrerzimmer, und ich wäre am liebsten unter einen der Tische gekrochen, sie ging aber an mir vorbei, grüßte mich freundlich und verlor kein Wort über mein gestriges Fehlen. Das erleichterte mich einerseits, beunruhigte mich aber gleichzeitig, da ich nicht wusste, was dieses Nichtbeachten meiner Schuld zu bedeuten hatte. Ich hielt nach Pascal Ausschau, konnte ihn nirgendwo sehen und begann, mir langsam Sorgen zu machen. Da klingelte es, und ich musste in die 10d, wo mir die Schüler eine von jenen kleinen, mit Flüssigkeit gefüllten Glaskugeln auf den Tisch gestellt hatten, die man durch Schütteln zum Schneien bringen konnte. Ich begrüßte die Schüler, schüttelte die Kugel, erfreute mich am Schnee, der langsam auf das kleine Haus und die winzigen, in der Kugel befindlichen Menschen fiel, und sagte snow . Die Schüler applaudierten. In der Fünf-Minuten-Pause sah ich den ersten herrenlosen Schlüssel auf einem der Lehrertische und atmete schneller. Ich konnte nicht erkennen, wem der Schlüssel gehörte, sah mich nach allen Seiten um, zögerte aber einen Augenblick zu lange, denn mit einem Aufschrei stürzte sich Bruns auf den Schlüssel und riss ihn mit hochrotem Kopf vom Tisch. Dann hörte ich einen lauten Knall und sah endlich Pascal, der soeben eine Flasche Sekt geöffnet hatte und, umringt von sechs, sieben Lehrern, den Sekt in Gläser goss. Pascal, rief ich, was ist los? Er reichte auch mir ein Glas, wir stießen alle an und tranken. Anschließend sammelte ein Lehrer die leeren Gläser ein und beseitigte die Spuren. Er habe eine Eins bekommen, strahlte Pascal. Wie das? rief ich erfreut und klopfte ihm auf die Schulter. Er habe eine hervorragende Stunde gehalten, sagte er. Unvorbereitet? fragte ich. Natürlich, sagte er, hervorragend. Der Domkapitular persönlich habe ihm dies bescheinigt. Was er denn gemacht habe, in der Stunde? fragte ich ihn. Pascal sah sich im Kreis um. Als Einstieg, begann er, habe er die Kinder vorbeten lassen, zehn Minuten lang, sämtliche Gebete, an die er, Pascal, sich noch vage habe erinnern können, er habe strengstens auf das korrekte Aussprechen der Gebete geachtet, Dein Reich komme , habe er die Kinder verbessert, komme , nicht kommt , Konjunktiv I, habe er gesagt, Dein Wille geschehe , geschehe ,nicht geschieht . Wer den Konjunktiv II von geschehen kenne? habe er die Kinder gefragt. Wer das Ganze durchkonjugieren könne? Wer wisse, was gebenedeit bedeute? Wer ein Synonym für gebenedeit kenne? Nach dieser Einstiegsphase habe er die Bibeln auspacken und die Kinder abwechselnd Bibelstellen vorlesen lassen. Dreißig Minuten lang. Das sei alles gewesen. Am Ende habe er noch ein Abschlussgebet gesprochen und den Domkapitular um seinen Segen gebeten, den er, Pascal, und die gesamte Klasse kniend entgegengenommen hätten. Gerade der letzte Akt der Stunde habe beim Domkapitular einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Pascal und der Domkapitular hätten sich anschließend zur Besprechung der Stunde in ein leeres Klassenzimmer zurückgezogen, doch in dem Augenblick, da der Domkapitular mit seiner Detailkritik an der Stunde habe beginnen wollen, habe er, Pascal, gesagt, er wolle sich ganz dem weisen Urteil des Domkapitulars beugen und die kostbare Zeit der kommenden fünfundvierzig Minuten nicht mit überflüssigen Worten verstreichen lassen, sondern lieber mit ihm, dem Domkapitular, gemeinsam wachen und beten. Der Domkapitular habe genickt und nicht nur die verbliebenen fünfundvierzig Minuten gebetet, sondern Pascal anschließend eingeladen, mit ihm in die Christuskirche zu gehen, wo beide die Nacht über in schweigender Meditation
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