Lehrerzimmer
bekämpfte im Bündnis mit Ludwig dem Deutschen Kaiser Lothar den Ersten. Ich trat auf den Gang, holte meinen gestern Nacht geschriebenen Zettel aus der Tasche und fragte, Verdun? Verdun, sagte Kniemann und folgte mir, 843, Vertrag, das Westfränkische Reich. Ich stand inzwischen vor dem Klassenzimmer und legte die Hand an die Klinke. Lothringen? fragte ich. Lothringen, sagte Kniemann, 869 besetzt, aber er musste es teilen, der Kahle, mit Ludwig dem Deutschen. Mehr hörte ich nicht.
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D urch diesen Zwischenfall war ich zehn Minuten zu spät gekommen, musste die Stunde aber, laut Direktionsorder, fünf Minuten eher beenden, was ich auch geflissentlich tat. Dann ging ich zu den anderen Lehrern ins Lehrerzimmer und wartete. Der Direktor betrat den Raum. Hinter ihm Bassel. Die Lehrer standen alle aus einem inneren Impuls heraus auf. Setzen, sagte der Direktor. Man setzte sich. Ich blieb mit den anderen Neuen an der Wand am Eingang stehen. Es hätten sich, begann der Direktor, subversive Elemente in dieses Kollegium eingenistet, die er nicht übel Lust hätte, mitsamt Wurzel auszureißen. Wurzeldenken, raunte mir Renner zu, hab ich’s nicht gesagt? Er, Höllinger, habe am gestrigen Tag einen Tadelanruf vom Oberschulamt bekommen. Noch nie habe er in seiner fünfundzwanzigjährigen Karriere vom Unterreferendar bis zum Oberstudiendirektor einen Tadelanruf vom Oberschulamt bekommen. Erst jetzt, gestern, zum ersten Mal. Und weshalb? Er machte eine gewichtige Pause. Es habe eine Beschwerde gegeben. Die Lehrer husteten. Von außerhalb, sagte Höllinger. Stille. Von Frau Direktorin Doktor Wirtz. Tuscheln und Füßescharren. Sie alle kennen Frau Direktorin Doktor Wirtz und wissen, was für ein Mensch sie ist, sagte Höllinger. Sie hat sich darüber beschwert, dass ich in Konferenzen ihre Schule verunglimpfe. Der Direktor trank etwas von dem Wasser, das Bassel ihm eingeschenkt hatte, und räusperte sich. Frau Direktorin Doktor Wirtz, sagte Höllinger, sei zu Ohren gekommen, dass er, Höllinger, sich despektierlich über ihr Gymnasium, das KNOGY , geäußert hätte. Sie habe dem Oberschulamt mitgeteilt, er, Höllinger, hätte in der Schuljahreseröffnungskonferenz dem Göppinger Kollegen Kracht zum Vorwurf gemacht, sein Abitur am KNOGY absolviert zu haben, statt, wie es sich für einen guten Göppinger gehöre, am ERG . Das Rumoren im Lehrerzimmer wurde lauter, man sah sich gegenseitig an, nur Josef Jensen saß ruhig auf seinem Stuhl und strahlte von innen heraus. Sie wissen alle, was das bedeutet, sagte Höllinger. Wir haben einen Maulwurf im Kollegium . Nun wuchs die Unruhe unter den Lehrern, und erste Rufe wurden laut, wer das sei, eine Unerhörtheit, der solle sich melden, sofort, Frechheit, Interna ausplaudern, noch dazu über den Direktor, nieder mit dem Maulwurf. Der Direktor hob die Hand, und augenblicklich trat Stille ein. Ein Maulwurf, wiederholte Höllinger, hier, bei uns, im Kollegium. Jemand, der das, was hier, im Kollegium, gesagt wird, nach außen trägt, und nicht nur nach außen, nein, an den äußersten Rand überhaupt, ans KNOGY . Höllinger machte eine Pause. Dann sagte er, er gebe dem Maulwurf von jetzt an genau sieben Minuten Zeit, sich zu melden. Bis zum Klingelzeichen. Falls der Maulwurf sich nach Ablauf dieser Zeit nicht gemeldet habe, müsse er, Höllinger, weiterreichende Konsequenzen in die Wege leiten. Stille. Der Direktor setzte sich und streckte siegesgewiss die Füße aus. Sein Blick fiel auf Josef Jensen, der aber dachte nicht daran, auch nur durch ein Zucken zu verraten, dass er – davon war ich felsenfest überzeugt – der Schuldige war. Nein, Jensen streckte ebenfalls seine Füße aus und lehnte sich zurück, sodass Höllinger nach einer Weile Renner fixierte. Der war sich keiner Schuld bewusst und lächelte selig. Höllinger sah mich an, aber nur kurz, ich schien für ihn nicht in Frage zu kommen. Scharinger, Kleible, Linnemann, nach und nach wanderte sein Blick über die Gesichter der Lehrer, niemand meldete sich. Die Zeit verstrich. Höllinger sah immer häufiger auf seine Uhr, zupfte sich am Ohr. Als es klingelte, wurde er blass, beugte sich dann zu Bassel, redete kurz mit ihm, nickte, sah wieder in die Runde. Seine Stimme klang nicht mehr so sicher wie zu Beginn, als er sagte, er habe soeben im kleinen Führungsgremium beschlossen, die Schüler für den Rest des Tages vom Unterricht zu dispensieren. Bevor wieder an einen geregelten Unterricht gedacht werden könne, müsse der Maulwurf
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