Lehrerzimmer
ausgeharrt hätten. Auf seine, Pascals, bange Frage, ob man ihm nun die Missio entziehen werde, habe der Domkapitular entgegnet, dass nie ein Lehrer würdiger dieses Wort getragen habe als er, Pascal. Wir applaudierten. Dann klingelte es, und als wir alle in die zweite Schulstunde dieses Tages gehen wollten, hörten wir aus dem Lehrerzimmerlautsprecher die Stimme des Direktors, die kalt und leer klang. Er sagte, er rufe alle Lehrer nach dem Ende der zweiten Stunde zu einer außerplanmäßigen Kurzkonferenz zusammen. Um ein pünktliches Erscheinen zu gewährleisten, sei die folgende Stunde einheitlich fünf Minuten vor dem regulären Ablauf zu beenden. Schweigend gingen die Lehrer in ihre Klassen. Josef überholte mich mit gertenartigen Schritten, und ich sah, wie er hinter seinem Rücken den Daumen der rechten Hand hob.
Um den Klassenraum meiner fünften Klasse zu erreichen, musste ich am Beratungszimmer vorbei, dessen Tür plötzlich ruckartig aufsprang. Kranich! hörte ich eine Stimme. Ich erkannte im Schatten des Zimmers Frau Kniemann. Ja? fragte ich. Kommen Sie rein, sagte Kniemann. Ich sagte, ich hätte jetzt Unterricht … Das wisse sie, aber sie habe mir wichtige Dinge mitzuteilen. Ich ging hinein und schloss die Tür. Beantwort bar , war ihr erstes Wort, das sie mir entgegenzischte. Ich, Kranich, hätte die Todsünde eines jeden Lehrers begangen. Eine unverzeihliche Ungeheuerlichkeit. Sie, Kniemann, habe am gestrigen Tag drei Stunden am Telefon verbracht. Zunächst habe sie einen Freund angerufen, Parteimitglied der CDU . Der habe nichts gewusst und sie weiterverbunden an ein Parteimitglied der CSU . Der wiederum habe sie genauestens ausgehorcht. Als er erfahren habe, dass es ihr, Kniemann, um die Dioptrienzahl seines ehemaligen Landesvaters gegangen sei, habe er sie in gröbsten Worten beschimpft. Das lasse er nicht zu, habe er gesagt. Immer wieder würden Menschen versuchen, das Andenken des größten bayrischen Staatsmannes des 20. Jahrhunderts zu besudeln. Wutentbrannt habe er aufgelegt. Da habe sie wieder ihren Parteifreund bei der CDU anrufen müssen, der sie nacheinander verbunden habe an drei weitere CSU ler. Zwei hätten ihr nicht helfen können, beim Dritten habe sie, Kniemann, sich als Wissenschaftliche Assistentin der Universität Bamberg ausgegeben, die ihre Doktorarbeit über die Bedeutung des Strauß’schen Gedankenguts für eine umfassende Reform der Politik der Gegenwart verfasse und aus diesem Grund einige persönliche Fragen an die Straußtochter zu richten habe. Da, sagte Kniemann, habe sie die Nummer bekommen. Sofort habe sie, Kniemann, die Straußtochter angerufen und nach der Dioptrienzahl des Vaters gefragt. Die Straußtochter sei ein wenig amüsiert gewesen von Kniemanns Frage und habe wissen wollen, weshalb sie, Kniemann, dies interessiere. Kniemann habe es ihr erklärt. Daraufhin habe die Straußtochter gesagt, es tue ihr Leid, sie könne die Frage nicht beantworten, ihr Vater habe nie eine Brille getragen, seine Augen seien bis zum Schluss vollkommen in Ordnung gewesen. Da habe sie, Kniemann, gesagt, das sei nicht möglich, man habe ihr, Kniemann, eine Frage gestellt, die Frage habe sich auf die Dioptrienzahl Franz-Josef Strauß’ bezogen, die Frage sei von einem Lehrer gestellt worden, also müsse sie beantwortbar sein. Die Straußtochter aber habe beteuert, dass es sich so verhalte, wie sie gesagt habe, und Kniemann habe unverrichteter Dinge auflegen müssen. Und das solle ich, Kranich, mir ein für alle Mal hinter die Ohren schreiben: Nie wieder, sagte Kniemann und wiederholte diese Worte, nie wieder solle ich eine Frage stellen, die unbeantwortbar sei. Immer, schloss Kniemann, und sie meißelte mir dieses Wort regelrecht in die Stirn, immer hätte ich meine Fragen daraufhin zu überprüfen, ob man sie beantworten könne. Eine Frage, die man nicht beantworten könne, sei keine Frage, sei eine Missgeburt, ein Hohn an jeden Befragten, eine Unverschämtheit. Sie habe meine Schüler vor mir schützen wollen und keine Sekunde länger warten können, mir dies mitzuteilen. Ich entschuldigte mich bei ihr und fragte, ob ich jetzt gehen könne. Als sie finster blickend nickte, fragte ich sie noch, ob sie mir statt der Strauß’schen Dioptrienzahl etwas über Karl den Kahlen sagen könne. Natürlich, Kranich, sagte sie und ihre Miene hellte sich ein wenig auf, Karl der Kahle, sagte sie, geboren in Frankfurt am Main, 13. Juni 823, gestorben in Avrieux, 6. Oktober 877, Karl
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