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Lehrerzimmer

Lehrerzimmer

Titel: Lehrerzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Orths
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eine Lehrerin neben mich setzte, ganz in Grau, Mitte fünfzig, ihre Bewegungen hatten etwas Ruckartiges, Strenges, sie reichte mir die Hand und sagte, Kniemann, Geschichte, Latein, Griechisch und Ethik. Und Ethik? fragte ich. Und Ethik, sagte sie. Ich sagte, Kr… Sie wisse Bescheid, unterbrach sie mich, Kranich, Englisch, Deutsch, sie, Kniemann, studiere immer die Akten der Neuankömmlinge, noch ehe diese an der Schule eingetroffen seien. Man müsse alles wissen, man dürfe nie unvorbereitet einer Situation entgegengehen, als Lehrer schon gar nicht. Für die Schüler sei man der Quell des Wissens. Sie hätten vor Ehrfurcht zu erstarren, die Schüler, vor der Autorität der Bildung, vor der Überlegenheit des Lehrerintellekts. Dann sah sie sich in alle Richtungen um und flüsterte plötzlich, ein wenig näher rückend: Herr Kranich, fragen Sie mich . Ich sagte, wie bitte?Fragen Sie mich, ich bitte Sie, irgendwas Geschichtliches , egal was, fragen Sie mich, machen Sie schon, kommen Sie, Kranich. Ich brauchte einige Sekunden, um meine Gedanken zu ordnen, und stammelte dann, also gut, wie Sie wollen: Wann wurde Rom erbaut, also, ich meine, gegründet? Nein, rief Kniemann, Kranich, konzentrieren Sie sich, ich meine Fragen , richtige Fragen, schwierige Fragen, Fragen, die niemand wissen kann, der nicht alles weiß, na los, machen Sie schon, wir haben nicht ewig Zeit. Ich dachte fieberhaft nach und fragte sie, wer der erste Außenminister der Bundesrepublik gewesen sei. So wird das nichts, sagte sie und zog ein Oberstufengeschichtsbuch aus ihrer Schultasche. Los, Kranich, schlagen Sie nach, schlagen Sie irgendeine Seite auf und fragen Sie mich. Ich öffnete das Buch und fragte, wie lang die Siegfriedlinie sei. Ja, sagte sie, endlich lächelnd, ja, Kranich, 400 Kilometer, sie schloss die Augen, rund 400 Kilometer, vielleicht länger, noch länger, eigentlich Westwall, sagte sie, zwischen Mai 38 und August 39 erbaut, von Aachen bis Basel, rund 15000 Bunkeranlagen. Weiter, Kranich, machen Sie weiter, hören Sie nicht auf. Ich fragte sie nach dem Wormser Konkordat. Gut so, sagte Kniemann, 23. September 1122, zwischen Heinrich dem Fünften und Calixt dem Zweiten. Weiter. Josephus Flavius? Zu flach, Kranich, tiefer, Kranich, tiefer. Ich fragte ungefähr fünf Minuten lang, begann schließlich Fragen zu erfinden, Kniemann schien Napoleons Schuhgröße zu kennen, ich konnte es nicht kontrollieren, sie kannte die Haarfarbe des Sonnenkönigs (unter der Perücke), die Konfektionsgrößen von Lenin und Friedrich dem Großen, sie wusste, wie viele Instrumente Ludwig Erhard spielen konnte und um wie viel Uhr die Marseillaise komponiert worden war. Erst als ich sie nach der Dioptrienzahl von Franz-Josef Strauß fragte, erbleichte sie. Sie nahm mir leicht verärgert, wie es schien, das Buch aus der Hand, stand auf und ging an ihren Platz. Ich konnte nicht verfolgen, was sie nun tat, da in diesem Augenblick eine kleine, bebrillte, noch junge Lehrerin auf mich zustürzte. Ob ich wahnsinnig sei? schrie sie mich an. Was denn? fragte ich verwirrt. Wie ich die Frechheit haben könne, ein schwarzes Hemd zu tragen? Ich verstand sie nicht. Hilde Bräunle ihr Name, Deutsch, Französisch. Kranich, sagte ich … Sie sei die Lehrerfotokoordinatorin. Ob ich ihren Brief nicht bekommen hätte? Welchen Brief? fragte ich. Den Brief, auf dem schwarz auf weiß stünde, in welcher Kleidung ich am heutigen Dienstag zum Unterricht zu erscheinen habe. Nein, sagte ich, ich hätte keinen Brief bekommen. Auch das noch, sagte sie und reichte mir eine Liste. Hier, sagte sie, steht es, deutlich lesbar, Kranich – helles Oberteil . Ich sagte, ich verstünde nicht … Der Fotograf, sagte sie, kann nur dann ein Foto machen, wenn die Lehrer in abwechselnd dunklen und hellen Oberteilen nebeneinander stehen. Der Kontrast, Sie wissen schon. Seit Jahren habe sie, Hilde Bräunle, die Aufgabe übernommen, den Lehrern in einem Brief mitzuteilen, in welcher Kleidung sie am Tag der Ablichtung aufzutauchen hätten, eine nicht einfache Koordinationsleistung, da sie die verschiedensten Dinge zu berücksichtigen hätte: Manche Lehrer weigerten sich schlichtweg, außerhalb von Beerdigungsveranstaltungen Schwarz zu tragen, andere hätten keine hellen Kleidungsstücke in ihrer Garderobe, daneben müsse sie die Größe der Lehrer berücksichtigen, also die Tatsache, wer letztlich wo in welcher Reihe platziert werden könne, ohne einen kleineren Lehrer zu verdecken. Stundenlang

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