Lehrerzimmer
säße sie an diesem Plan. Vom Verschicken der Briefe einmal abgesehen. Und jetzt besäße ich die Frechheit, ihr Werk zu vernichten. Es sei undenkbar, dass der Fotograf auf den Auslöser drücke, wenn drei dunkel bekleidete Lehrer nebeneinander stünden. Ich nickte. Was man da tun könne? fragte ich. Frau Bräunle setzte sich und wurde ruhiger. Also, sagte sie, sie sehe da drei Möglichkeiten. Welche? fragte ich. Entweder ich ließe mich mit nacktem Oberkörper fotografieren. Nein, sagte ich sofort, das komme nicht in Frage. Oder aber, fuhr Bräunle fort, ich verzichtete auf das Foto. Und die dritte Möglichkeit? fragte ich. Irgendein Lehrer, antwortete Hilde Bräunle, müsse zufällig ein zweites helles Oberteil dabeihaben, das er mir ausleihen könne. Gut, sagte ich, ich würde mich umhören. Da schellte es schon, es war ein Uhr, ich stand auf und fragte alle mir entgegenkommenden Lehrer nach einem zweiten hellen Oberteil, niemand konnte mir helfen, nur Achim Renner sagte, er habe eine Idee. Er lief fort und kam gerade noch rechtzeitig mit einem gelben Sportleibchen aus der Turnhalle zurück, welches ich mir zum Westeingang laufend überwarf, ehe ich keuchend auf das Klicken des Fotografen wartete und gleichzeitig merkte, dass der ganze aufgestaute Druck meines Magens nun in meinen Därmen rumorte, ich erinnerte mich an die abgebrochene Sitzung auf der Lehrertoilette und hoffte, dass der Fotograf sich beeilen würde, was jedoch nicht der Fall war. Erst nach zehn Minuten wurden wir entlassen, und ich stürzte im gelben Sportleibchen zur Toilette.
Als ich nach geraumer Zeit die Toilette verließ, war es schon reichlich still im Schulhaus. Ich suchte nach Pascal, konnte ihn aber nirgends finden. Er war nicht mal zum Fototermin erschienen. Das beunruhigte mich. So packte ich schließlich meine kopierten Schülerakten ein und verließ die Schule, lief durch die Unterführung, der Mann am Akkordeon war nicht da, und ich fuhr zurück nach Stuttgart. Im Zug fand ich eine Göppinger Tageszeitung, aus der ich einige Wohnungsangebote herausriss. Zu Hause aß ich irgendetwas, das in meinem Kühlschrank vor sich hin gammelte, legte während des Essens die Akten meiner Schüler auf den Küchentisch und begann, die Vornoten auswendig zu lernen. Mehr als einmal wären mir beinah die Augen zugefallen, aber ich riss mich zusammen. Gegen acht hatte ich die Noten sattelfest im Kopf und ging daran, meine Stunden für den nächsten Tag vorzubereiten. Ich werde es gewissenhaft tun, sagte ich mir, und es war zwei Uhr morgens, als ich endlich vom Schreibtisch aufstand. Ich war am Ende meiner Kräfte, schaffte es aber noch, mein Geschichtsbuch hervorzukramen, zwölf knifflige Fragen aufzuschreiben und in die Tasche zu schieben, um für weitere Gespräche mit Frau Kniemann gerüstet zu sein. Beim Ausziehen stellte ich fest, dass ich noch das gelbe Sportleibchen trug, ich legte mich hin, kuschelte mich in die Kissen, gähnte lang und friedlich und war gerade im Begriff einzuschlummern, als mich ein bestialischer Schock aus den Federn riss. Ich fuhr hoch und schlug mir die flache Hand vor die Stirn. Die Fachkonferenz! Englisch! Heute Mittag! Nach dem Fototermin! Vollkommen vergessen! Stattdessen hatte ich auf dem Klo gesessen, anschließend Pascal gesucht und ihn nicht gefunden. Mein Herz begann so rasch zu schlagen, dass ich für den Rest der Nacht kein Auge mehr zutat.
13
V öllig verkatert und übermüdet näherte ich mich meinem dritten Schultag im ERG . Ich war die ganze Nacht durch meine Wohnung getigert und hatte händeringend überlegt, welche Erklärung ich für mein Fehlen bei der Fachkonferenz würde abgeben können. Ich befürchtete, dass Frau Klüting den Chef von meinem Fehlen in Kenntnis gesetzt hatte. Dann, dachte ich, im Zug sitzend, wäre alles verloren, da würden auch keine erbeuteten Schlüssel mehr helfen. Da durchzuckte mich der Gedanke an meinen geheimen Auftrag, und ich begann, über Schlüsselentwendungsmöglichkeiten nachzudenken. Wem könnte ich die Schlüssel klauen? Wem und wie? Linnemann? Nein, der hatte schon sein Fett abbekommen. Miller? Dem Bibliothekar? Der ist zu vorsichtig. Kniemann? Wer weiß … Am Eingang zur Schule traf ich Herrn Krämer. Er sagte träge, noch sechs Wochen und drei Tage. Zwei Tage, sagte ich. Wieso? fragte er. Sie vergessen den dritten Oktober, sagte ich, und Krämer nickte anerkennend. Im Lehrerzimmer schaute ich mich zunächst nach Frau Klüting um, in dem Bestreben, ihr, so weit
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