Lehtolainen, Leena
dem Handy bei der Polizei anrufen müssen, aber das brachte ich nicht fertig. Ich wollte niemandem von diesem schrecklichen Vorfall erzählen.
Ich kam mir vor, als wäre ich durchsichtig und würde bei der geringsten Berührung in Millionen kleine Splitter zerbersten.
Fielen da von meiner zitternden Hand nicht schon Stückchen auf den Boden, Hautfetzen, Knochensplitter, Blut …
Wieder klingelte das Telefon. Ich riss den Stöpsel so ungestüm heraus, dass die Steckdose halb aus der Wand hing. Als Nächstes klingelte das Handy. Meine Hände zitterten so stark, dass ich es kaum aus der Handtasche bekam. Auf der Anzeige sah ich die Nummer des Anrufers: mein Bruder Reima. Ich drückte die Taste und schaffte es, einen Laut von mir zu geben.
«Reima hier, hallo! Noch bei der Arbeit?»
«Nein.» Es fiel mir schwer, auch nur ein Wort zu sagen, mein Hals war wie ausgedörrt.
«Haste meine Nachricht gekriegt? Das geht doch klar mit nächster Woche?»
Eigentlich passte mir sein Besuch überhaupt nicht, ich wusste aus Erfahrung, dass ich nächste Woche mehr tot als lebendig sein würde. Vergeblich suchte ich nach einer Ausrede.
«Kommt ihr zu zweit, du und Tupu?»
«Ja. Das Schiff fährt so früh ab, ich hab keine Lust, die Nacht durch zu fahren. Da ist am Ende die ganze Kreuzfahrt im Eimer.
Zurück fahren wir nachts, da kann ich dann aber auf dem Schiff höchstens zwei Bier trinken.»
Reimas Gerede wirkte beruhigend, anschließend konnte ich wieder klarer denken. Der unbekannte Anrufer hatte behauptet, Sulo wäre tot, also wusste er eigentlich nichts. Aber wie hatte er herausgefunden, dass ich ledig war? War es jemand, der mich kannte?
Meine Nummer stand nicht im Telefonbuch, weil die Männer unserer Klientinnen auf die Idee kommen könnten, uns mit Drohanrufen zu belästigen. Der Kerl konnte die Nummer nur vom Suchzettel haben. Ich musste die Dinger heute noch abrei-
ßen. Bevor ich wieder hinausging, zog ich wollene Strumpfho-sen und einen zweiten Pullover an. Es war fast Vollmond und so windstill, als hätte jemand den Wind abgewürgt.
Als der letzte Zettel abgerissen war, konnte ich kaum noch bis nach Hause gehen. Ich hatte nichts gegessen, seit ich von der Arbeit gekommen war, nun schmeckte das Roggenbrot seltsam kräftig, als ob Preiselbeeren eingebacken wären. Ich dachte, eigentlich wäre es spannend, wenn man vorher nicht wusste, wonach einzelne Speisen schmeckten, wenn Eis womöglich salzig, Hefeteilchen sauer und Fleischklößchen süß wären.
Sulo war wieder da, ich hätte also überglücklich sein müssen.
Stattdessen kam es mir vor, als existierte ich gar nicht. Ich sah aus dem Fenster. Ein vergessener Kinderstuhl in Neonpink stand mitten im Sandkasten und leuchtete im Dunkeln wie ein surreales Kunstwerk. Ich würde nie ein Kind haben, dem ich Stühle und Sandschäufelchen kaufte. Ich wollte nicht daran denken, aber es nagte an mir, schuf eine leere Stelle neben dem Herzen, plagte mich wie ein Phantomschmerz.
Schon in den letzten Klassen des Gymnasiums hatte ich es gewusst: Eine unscheinbare graue Maus wie ich würde nie im Leben einen Mann abkriegen. Ich hatte dicke Oberschenkel, war picklig und schüchtern, und obwohl ich drei kleine Brüder hatte, konnte ich mit gleichaltrigen Jungen nicht unbefangen umgehen. Ich schwärmte immer nur für irgendwen. Als ich während des Studiums die intensive Paarungszeit meiner Kom-militonen beobachtete und im Sommer auf den Hochzeiten meiner Brüder tanzte, dachte ich manchmal, bald selbst an der Reihe zu sein. Aber dazu ist es nie gekommen.
Es war ein Fehler gewesen, in diese Gegend zu ziehen, wo fast nur Familien mit Kindern lebten. Meine Ersparnisse hatten ausgereicht, um eine Zweizimmerwohnung zu kaufen, und die günstige Lage in der Nähe des Arbeitsplatzes hatte den Ausschlag gegeben. Aber als allein stehende Frau – die Bezeichnung Single bezog sich meiner Meinung nach auf jüngere, schönere Menschen, die ihre Lebensweise freiwillig gewählt hatten – hät-te ich im Zentrum von Helsinki leben müssen, in der Nähe der Geschäfte, Restaurants, wo ich dem Richtigen hätte begegnen können. In Stadtteilen wie Töölö oder Vallila waren alle anderen auch allein stehend. Hier aber war ich sicher die Einzige in der ganzen Hausgemeinschaft, die kein Auto und keinen Garten-grill besaß. In den anderen Zweizimmerwohnungen lebten junge Pärchen oder Rentner, deren Kinder schon aus dem Haus waren.
Aber da war ja noch Kalle, er lebte offenbar auch allein.
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