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Lehtolainen, Leena

Titel: Lehtolainen, Leena Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeit zu sterben
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Unterführung Schutz und wagte mich erst hervor, als die Sonne wieder hinter einer dunkelvioletten Wolke hervorspähte und ein besonders leuchtender Regenbogen eine Brücke über den Himmel schlug.
    Das andere Ende des Regenbogens schien über meinem Haus zu stehen.
    Die folgende Woche war furchtbar. Die Hälfte des Personals, darunter auch Pauli, hatte Grippe, und Espoo wurde von einer wahren Welle familiärer Gewalt heimgesucht. Ich wusch mir geradezu hysterisch die Hände mit Desinfektionsmittel, um mich nur ja nicht anzustecken. Am Mittwoch fragte Maisa, die Paulis Vertretung übernommen hatte, ob ich am nächsten Tag nicht schon um acht statt um elf Uhr kommen könnte, weil Anneli drei Nächte hintereinander Dienst gehabt hatte und die zusätzlichen Stunden am Morgen nicht mehr verkraftete.
    «Das geht nicht», sagte ich entschlossen.
    «Nun sei doch ein bisschen flexibel!» Geduld war nicht Maisas Stärke.
    «Ich habe morgen früh etwas anderes vor.»
    «Was denn?»
    «Das geht dich nichts an», erwiderte ich und ging. Wie oft hatte Maisa mich ermahnt, ich sollte mich zusammenreißen und mich gegen Pauli behaupten. Jetzt, wo ich es endlich gelernt hatte, war sie auch nicht zufrieden.
    Bei der Chorprobe hatte ich das Gefühl, aus meiner trockenen Kehle keinen Ton mehr herauszubekommen. Die Hälfte des Chors fehlte wegen Grippe, auch Timo Takala hatte es erwischt.
    Ich hoffte, dass er für längere Zeit die Stimme verlor, und der gehässige Gedanke bereitete mir nicht einmal ein schlechtes Gewissen. Den Donnerstag überstand ich nur noch mit Willens-kraft. Obendrein musste ich nach der Arbeit noch für Reima und Tupu Essen kochen. Sie kamen an, als der Nachrichtensprecher im Fernsehen gerade die neuesten Entwicklungen der russischen Wirtschaftskrise erläuterte. Reima, mein jüngster Bruder, war einunddreißig, ein breitschultriger, gut aussehender Mann.

    Er arbeitete in einer Wurstfabrik als Fleischer und freute sich, wenn er andere mit seinen blutrünstigen Geschichten schockie-ren konnte. Als Mitbringsel überreichte er mir eine Tüte mit Wurst und Schlachtresten für Sulo, der das Fleisch wütend at-tackierte, als ob der Blutgeruch, der von dem Päckchen aufstieg, ihn wild gemacht hätte.
    Reima machte sich ein Bier auf. Ich hatte für ihn ein paar Flaschen von der dunklen Sorte mit dem interessanten Geschmack gekauft, die ich bei Kalle getrunken hatte. Tupu, Reimas derzeitige Frau, redete gern und viel, sodass ich mich um das Gespräch gar nicht zu kümmern brauchte. Sie hatte einen genauen Plan gemacht, welche Märkte und Geschäfte sie in Tallinn besuchen würde, während Reima sich auf das Einkaufen von billi-gem Bier konzentrieren wollte. Ich versuchte, mir nicht anmer-ken zu lassen, wie müde ich war und wie schwer es mir fiel, das Gulasch herunterzuschlucken. Kurz nach neun klingelte es.
    «Wer kommt denn um diese Zeit noch?», wunderte sich Tupu, bevor ich die gleiche Frage stellen konnte.
    Durch das Türfenster sah ich Kalles bärtiges Gesicht. Ich machte ihm auf, weil er mich gesehen hatte und weil ich dank Reima und Tupu einen Vorwand hatte, ihn nicht hereinzubitten.
    «Guten Abend, Säde. Ich wollte Sie zu einem Spaziergang einladen. Es ist ein herrlicher Sternenhimmel.» Das Lächeln in seinen braunen Augen war selbst wie ein Stern, flackernd und verwirrend nah.
    «Ich habe Besuch von meinem Bruder und seiner Frau», sagte ich erleichtert.
    «Vielleicht ein andermal?»
    «Mal sehen», meinte ich. Dabei hätte ich ihm natürlich besser gleich klargemacht, dass ich keinen Wert auf seine Gesellschaft legte, auch wenn keine geheimnisvollen Drohanrufe mehr gekommen waren und ich eigentlich auch nicht glaubte, dass Kalle dahinter gesteckt hatte.
    «Wer war das?», fragte Tupu mit vollem Mund.

    «Bloß ein Nachbar.»
    «Was ist denn das für ein Nachbar, der dich zum Spaziergang unter Sternen abholt?» In der Stimme meiner Schwägerin lag unverhohlene Neugier. Die Nachricht, dass ich womöglich einen Verehrer hatte, würde in der ganzen Verwandtschaft herum-gehen.
    «Irgendein Nachbar eben. Er interessiert mich nicht.»
    «Eine schöne Stimme hat er jedenfalls.» Tupu schien sich zu ärgern, keinen Vorwand gefunden zu haben, Kalle in Augenschein zu nehmen. Ich löffelte verzweifelt meinen Kartoffelbrei, der nach Mörtel schmeckte, und überlegte, ob meine Schwägerinnen sich wirklich freuen würden, wenn ich endlich einen Mann fände. Die Menschen haben das Bedürfnis, sich mindestens einem ihrer

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