Lehtolainen, Leena
Mutter, zur Bank zu gehen. Maisa hatte Anja überredet, die Karte für den Bankauto-maten, die Heikki ihr immer wieder abgenommen hatte, der Bank zurückzugeben.
«Heikki ist zweiunddreißig. Du bist ihm nichts schuldig.»
«Doch! Er sagt, ich habe ihm die Kindheit verdorben, weil ich mich nicht von Teuvo getrennt habe. Weil Teuvo getrunken und geschlagen hat, ist Heikki auch so geworden.»
An sich hatte Heikki Jokinen Recht, die Gewaltspirale setzte sich sehr oft in der nächsten Generation fort. Andererseits war Heikki ein erwachsener Mann, der selbst entschied, was er tat.
Ich bemühte mich vergeblich, Anja begreiflich zu machen, dass sie zur Polizei gehen musste und dass kein anderer es an ihrer Stelle tun konnte.
Von Tag zu Tag war es länger dunkel, wir alle warteten auf den Schnee, der ein wenig Helligkeit bringen würde, aber im November schneite es in der Hauptstadtregion selten. Maisa kaufte im Großhandel Dutzende einfache weiße Kerzen und orga-nisierte eine Färbeaktion. Bei dieser Beschäftigung konnten selbst die Ungeschicktesten ihrer Kreativität freien Lauf lassen.
Unseren Klientinnen und ihren Kindern machte es Spaß, auch ich färbte mir ein paar Kerzen: leuchtend rote, tiefgrüne und violett-goldene. Eine der roten Kerzen stellte ich auf den Tisch in meinem Arbeitszimmer und merkte plötzlich, wie matt und langweilig die Vorhänge und Sesselbezüge aussahen. Mit ungewohnter Energie ging ich nach der Arbeit in ein Geschäft und kaufte von meinem eigenen Geld einen dunkelroten Sesselbe-zug und grün gemusterte Vorhänge. Als Maisa am nächsten Tag zum Dienst kam und die neue Inneneinrichtung sah, war sie mindestens drei Minuten ganz still. Schließlich fragte sie:
«Hast du irgend so einen Lebensratgeber gelesen?»
«Ich bin es einfach satt, flachsfarbig zu sein. Ich würde mir gern eine neue Bluse kaufen, irgendwas Auffälliges. Am liebsten eine blutrote, aber die Farbe macht mich blass. Was meinst du?»
Maisa, die es nicht gewohnt war, mit mir über Kleider zu reden, starrte mich wieder eine Weile an, bevor sie sich gesammelt hatte und sagte, Kirschrot könnte passen. Am Wochenende fuhr ich nach Helsinki, um zu shoppen, zu essen und ins Kino zu gehen. Im Kaufhaus Stockmann vertraute ich einer Verkäuferin meine Bedenken wegen der Blässe an, und sie wählte einen pflaumenroten und einen himbeerroten Pulli für mich aus. Als ich gerade den zweiten anprobierte, zog sie überraschend den Vorhang vor der Umkleidekabine auf. Ich kreischte erschrocken auf und zog hastig den Pullover herunter.
«Oh, Entschuldigung!» Es war der Verkäuferin furchtbar peinlich. «Ich dachte, Sie hätten mich um Hilfe gebeten.»
«Ich habe nur ‹Hilfe› gesagt, weil ich so furchtbar aussehe», fuhr ich sie an.
«Aber nein! Himbeerrot steht Ihnen, Sie haben schöne Schlüsselbeine, die bei diesem Ausschnitt gut zur Geltung kommen. Wenn Sie den Pulli mit einem graphitgrauen Rock kombi-nieren und einen Lippenstift im gleichen Rot nehmen, sehen Sie blendend aus.»
Ich probierte den Rock an, den sie meinte, und staunte, weil mir Größe vierzig passte. Himbeerroten Lippenstift kaufte ich aber doch nicht. Für jemanden, dessen einziger Lippenstift den Farbton «nude» hatte, war das doch zu gewagt.
In der zweiten Novemberwoche kam ein Anruf aus dem Krankenhaus in Jorvi.
«Wir haben hier eine Patientin, die zu Ihnen ins Frauenhaus verlegt werden möchte. Sie war wegen Gehirnerschütterung und einigen anderen Verletzungen bei uns. Das Sprechen fällt ihr schwer, weil das Kinn gebrochen ist, aber sie braucht keine Krankenhauspflege mehr. Sie hat das Pflegepersonal schriftlich gebeten, mit dem Frauenhaus Schutzhafen Verbindung aufzunehmen.»
«Wodurch sind die Verletzungen verursacht worden?»
«Die Patientin ist nicht bereit, darüber Auskunft zu geben.
Der Arzt hat zuerst Verlust des Kurzzeitgedächtnisses vermutet, aber darum handelt es sich wohl nicht. Wir möchten sie nicht ohne Begleitung entlassen, aber sie ist nicht mehr behandlungs-bedürftig, und wir haben keinen Platz …»
«Bei uns ist Platz genug. Ich kann sie sofort abholen. Wie heißt die Patientin?»
«Tiina Marjaana Leiwo.»
Tiina war in einem fürchterlichem Zustand. Das gebrochene Kinn entstellte ihr hübsches Gesicht, alle Selbstsicherheit war aus ihrem Blick verschwunden. Ich fragte im Krankenhaus nach, ob die Polizei benachrichtigt worden war. Nein. Auf Tiinas Bitte hatte die Klinik in der Bank angerufen und mitgeteilt, Tiina habe
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