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Lehtolainen, Leena

Titel: Lehtolainen, Leena Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeit zu sterben
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Nächsten überlegen zu fühlen, das hatte ich früh gelernt. Mit meinem breiten Hintern und meinem farblo-sen Gesicht war ich meinen Schwägerinnen gerade recht, ich stärkte ihr Selbstbewusstsein.
    Reima ging nach draußen, um zu rauchen, und führte gleichzeitig Sulo aus, obwohl er es komisch fand, eine Katze an der Leine zu halten. Ich spülte ab, während Tupu in der Zeitung blätterte und die Todesanzeigen ebenso kommentierte wie die Frisur von Ministerin Siimes. Es war ein seltsames Gefühl, zu hö-
    ren, wie die Stimme eines anderen Menschen meine Wohnung in Besitz nahm.
    Am nächsten Morgen war die Übelkeit schlimmer als je zuvor. Ich versuchte, sie zu überwinden, musste aber schließlich doch Hals über Kopf ins Bad rennen. Die Tür war abgeschlossen, Reimas Rasierapparat brummte. Das Waschbecken in der Küche war meine letzte Rettung.
    «Um Himmels willen!», rief Tupu aus dem Wohnzimmer.
    «Was ist denn los? Du bist doch nicht etwa schwanger?»
    «Nee! Bei der Arbeit geht die Magen-Darm-Grippe um, jetzt hab ich sie wohl», keuchte ich und spülte das Becken aus, so gut ich konnte.

    «Hoffentlich kriegen wir sie nicht auch, ausgerechnet auf der Reise!», sagte Tupu vorwurfsvoll.
    «Die Inkubationszeit beträgt ein paar Tage, und das Becken kann ich ja vorsichtshalber desinfizieren.»
    «Ich fand gestern schon, dass du ziemlich blass aussiehst.»
    Tupu stand naserümpfend auf. Es überlief mich abwechselnd heiß und kalt, ich musste alle Kräfte zusammennehmen, um nicht mit dem Oberkörper auf den Tisch zu sacken. Reima und Tupu waren so entsetzt, dass sie beschlossen, ihren Kaffee lieber im Hafen zu trinken. So konnte ich mich auch ein wenig auf-rappeln, bevor ich zur Arbeit ging.
    Es war ein zweitklassiger Tag, einer, an dem nichts Wichtiges anstand und an dem es egal war, wie ich aussah. Also zog ich einen zweitklassigen Kunstfaserslip an, der nichts unternahm, um meine Taille zu formen oder meinen Bauch flacher zu machen. Er war, um es nett auszudrücken, puderfarben und schlot-terte über dem Po. Ich hatte eindeutig abgenommen. Eigentlich hätte ich mich darüber freuen müssen. Mein ganzes Leben lang hatte ich Schokoladenriegel als meine schlimmsten Feinde betrachtet, denen ich allzu oft unterlag. Es war ein strahlend son-niger Morgen, an den Bäumen glänzten die Tautropfen in allen Farben wie verfrühte Weihnachtslichter.
    Der erste Mensch, den ich im Schutzhafen zu Gesicht bekam, war Anja Jokinen. Sie saß im Esszimmer und löffelte ihre Grüt-ze. Wie ich im Bericht las, war sie am späten Abend aufgenommen worden, diesmal nicht wegen Misshandlungen, sondern weil sie seit drei Tagen nichts gegessen hatte. Ihr Sohn Heikki hatte ihr vor einer Woche alles Geld abgenommen, und ihre Rente wurde erst Ende des Monats überwiesen. Nachdem sie die letzten Kartoffeln und die letzte Erbsensuppe aufgegessen hatte, hatte Anja gehungert, bis sie schließlich klein beigab und im Frauenhaus Schutz suchte. Zum Glück war ihre Monatskarte für den Bus noch gültig.
    «Anja, jetzt erstattest du aber Anzeige! Du bist nicht verpflichtet, auf Kosten deiner eigenen Gesundheit einen erwachsenen Menschen durchzufüttern», sagte ich, als wir, von sanf-ten, flachsfarbenen Vorhängen abgeschirmt, in meinem Zimmer saßen.
    «Das kann ich doch nicht … meinen eigenen Sohn. Ich hab sonst niemanden.» Anja rang die Hände. Sie war klein und mager, ausgezehrt von ihrem Leid und vom Rauchen. «Ein Sohn ist schon im Gefängnis gelandet wegen mir. Ich kann den zweiten nicht auch noch dahin schicken.»
    Ich wusste, meine Worte konnten nichts ausrichten. Anja würde ihren Sohn niemals anzeigen, und da die Beteiligten eng miteinander verwandt waren, würde der Staatsanwalt ohne Zustimmung des Opfers keine Anklage erheben. Heikki drohte seiner Mutter abwechselnd mit Gewalt und mit Selbstmord.
    Auch wenn ich Selbstmord eigentlich nicht billigte, ertappte ich mich bei dem Wunsch, Heikki möge seine Androhung wahr machen. Anja hatte es verdient, wenigstens ein paar Jahre in Frieden zu leben. Als ihr Mann noch lebte, hatte es nicht einmal ein Frauenhaus gegeben, in das sie sich flüchten konnte. Als bleibende Erinnerung an den Verstorbenen hatte sie ein zer-quetschtes Fingerglied am kleinen Finger der linken Hand und eine mehrfach gebrochene Höckernase behalten. Durch die ständigen Prügel war Anja so ausgelaugt, Heikki brauchte nur die Hand zu heben, und schon gab sie ihm ihr ganzes Geld. War kein Bargeld im Haus, zwang er seine

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