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Lehtolainen, Leena

Titel: Lehtolainen, Leena Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeit zu sterben
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meiner Heimatstadt gekauft, aber es fiel ihnen schwer, sich an das Leben in der Stadt zu gewöhnen.
    Den Sommer verbrachten sie immer in der Dachkammer auf dem Hof.
    Ich dachte an den Geruch auf dem Hof meiner Eltern, an die Kühe und den frischen Roggen. Seit ich zehn war, hatte ich abends beim Melken geholfen, aber als ich in die vorletzte Klasse ging, bekam ich einen schweren Hautausschlag an den Händen. Es hieß, ich wäre vermutlich allergisch gegen Kühe. Mein Körper hatte in Symptome umgesetzt, was mich innerlich be-drückte, ich war nämlich fest überzeugt, dass ich trotz allen Waschens nach Stall roch und dass in der Schule alle über mich lachten.
    Ich ließ mein Fahrrad im Zentrum von Espoo stehen, um den Bus zu nehmen, denn ich hätte es auf keinen Fall geschafft, den ganzen Weg mit dem Rad zu fahren. An der Bushaltestelle fühlte ich mich sehr weit weg von den Kühen und dem Kleinstadtgym-nasium. Die ganze Umgebung war mit Fertighäusern aus Beton zugebaut, an deren Wänden Graffiti prangten, auf einer Bank hatten ein paar Penner ihr Lager aufgeschlagen, auf der nächsten saßen heftig diskutierende Somali. Am Rathaus fuhren schlangenweise schwarze Autos vor, in der Zeitung hatte gestanden, dass irgendeine Technologiekommission der EU Espoo besuchte. Das so genannte Zentrum meines derzeitigen Wohn-orts war schlicht und einfach hässlich. Früher hatte ich gedacht, die von Supermärkten und Discountläden gesäumte Hauptstra-
    ße meiner Heimatstadt sei an Hässlichkeit nicht zu übertreffen, aber damals kannte ich das Zentrum von Espoo noch nicht, ein wahres Spottbild eines zweckmäßigen Stadtzentrums.
    Manchmal sehnte ich mich in meine alte Heimat zurück. Ich vermisste den Schwefelgeruch, der abends bis zu unserem Haus drang, vermisste die Lichter an den Bergwerkstürmen und sogar den nordkarelischen Dialekt, für den ich mich so lange geschämt hatte. Auf der Fortbildungsveranstaltung im Frühjahr hatte ich plötzlich weinen müssen, als ein Psychologe, der aus der gleichen Stadt kam wie ich und einen Vortrag über neue Ideen für die Arbeit im Frauenhaus hielt, genau meine Sprache sprach. Das Heimweh hatte mich gepackt, hatte sich ausgebreitet wie Wasser in einem Wattebausch, und ich konnte für einen Moment nachempfinden, was ein Flüchtling fühlt, der in einem fremden Land plötzlich seine eigene Sprache hört.
    Ich war mit Staatsanwältin Katri Reponen im Büro von Hauptkommissarin Kallio verabredet. Die Voruntersuchung im Fall Ahola war fast abgeschlossen, nur meine Aussage fehlte noch. Die Staatsanwältin bezeichnete mich als ihre Kronzeugin und nannte die Tat vorsätzlichen Mord. Sie wollte lebenslänglich beantragen.
    «Die Verteidigung plädiert auf Totschlag», sagte die Staatsanwältin. Sie hatte eine warme, lebendige Stimme, die gut zu ihrer gerundeten, fraulichen Figur passte. Katri Reponen war hoch gewachsen, Hauptkommissarin Kallio, die ich so fürchtete, schrumpfte neben ihr auf menschliches Maß zusammen. Es war nicht zu übersehen, wie gut die beiden Frauen miteinander aus-kamen. Mich hatten sie als Werkzeug ausersehen, aber diese Rolle übernahm ich gern. Ich hatte dasselbe Ziel wie sie, zumindest, was Pentti Ahola betraf.
    «Das Schicksal hat Ari Väätäinen passenderweise abserviert», sagte Kallio, als das Gespräch sich dem Ende näherte. «Hast du nach der Beerdigung noch etwas von Sirpa gehört?»
    «Sie hat eine Stelle gefunden, es geht ihr wohl ganz gut. Matti macht auch nicht mehr ins Bett.»
    «Ist dir je der Gedanke gekommen, dass Sirpa an Aris Rasierer herumgepfuscht haben könnte?»
    Mir kam es vor, als ob Kallios grüne Katzenaugen mich zwingen würden, etwas zu sagen, was ich nicht sagen wollte. Deshalb schaute ich lieber aus dem Fenster.

    «Sirpa? Nein. Sie war wie gelähmt, sie wäre nicht fähig gewesen, sich so etwas auszudenken. Eher wäre sie eines Nachts mit dem Brotmesser auf Ari losgegangen.»
    «Koivu und Wang haben Sirpa vernommen. Sie wirkte unschuldig. Ein unachtsamer Bursche, dieser Väätäinen. Obwohl es einem als Außenstehende wirklich schwer fällt, um so einen Scheißkerl zu trauern», griente Kallio.
    Schweißgebadet verließ ich das Polizeigebäude.
    Ich war sicher, Kommissarin Kallio wusste alles.

    Sechs
    Sechs

    Am Freitagabend klingelte ich endlich bei Kalle. Ich hatte den Tag frei gehabt, weil ich in der Nacht von Samstag auf Sonntag arbeiten musste. Nachdem ich bis mittags im Bett gefaulenzt hatte, war ich nach Tapiola gefahren, um

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