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Lehtolainen, Leena

Titel: Lehtolainen, Leena Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeit zu sterben
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herausfinden, wie gefährlich Pasi Leiwo wirklich war.
    Noch als ich mit Sulo Gassi ging, dachte ich darüber nach. Es war kalt, das gefrorene Gras raschelte, mein Gesicht brannte.
    Plötzlich schreckte mich eine Stimme hinter meinem Rücken auf.
    «Hallo, Säde.» Es war Kalle, eine Abfalltüte in der Hand. Er war abends oft zufällig zur gleichen Zeit draußen wie Sulo und ich. Einmal hatte er auch seine Einladung zum Spaziergang wiederholt, aber ich war ausgewichen.
    «Guten Abend. Schon ziemlich kalt», sagte ich. Kalle hatte keinen Mantel an, nur einen Pullover.
    «Ja. Kommen Sie doch mit Sulo auf eine Tasse Tee zu mir.»
    «Ich weiß nicht … Sulo hat immer Hunger, wenn er vom Spaziergang kommt, und …»
    Warum wich ich schon wieder aus?
    «Kommen Sie doch stattdessen zu uns», hörte ich mich auf einmal sagen und war davon so verblüfft, dass ich am liebsten im Boden versunken wäre.
    Natürlich nahm er die Einladung an. Solange ich Tee kochte, Brötchen schmierte und Kekse servierte, brauchte ich nicht viel zu reden. Kalle ließ Sulo mit einem Grashalm spielen. Auf seinem Arm schimmerte der tätowierte Drache. Wofür hatte Kalle sieben Jahre bekommen? Auf Mord stand lebenslänglich, also brauchte ich wohl nicht um mein Leben zu fürchten. Worum dann? Um meinen Körper oder mein Eigentum?
    Ich erzählte Neuigkeiten vom Chor und berichtete von Sulos Streichen, Kalle sprach über einen neuen finnischen Film, den er gesehen hatte. Es ging um die Liebe zwischen Geschwistern, die im Zirkus aufgewachsen waren. Ich kannte keinen anderen Mann, der sich so einen Film freiwillig angesehen hätte.
    «Ich bin ein bisschen nervös wegen morgen», wechselte er plötzlich das Thema. «Ich muss kurz ins Gefängnis.»
    «Warum?» Die Spannung schnürte mir wieder die Kehle zu.
    «Einen Freund besuchen. Er muss mindestens noch drei Jahre absitzen. Er hat wie ich sieben Jahre bekommen, für das gleiche Verbrechen. Ich muss aufpassen, dass er keine Dummheiten macht, denn wenn er sich benimmt, kommt er nach vier Jahren raus.»
    Ich schluckte, versuchte, so viel Feuchtigkeit in meiner Kehle zu sammeln, um meine Frage stellen zu können.
    «Wofür haben Sie eigentlich gesessen?»
    Kalle sah mir gerade in die Augen und sagte ernst:
    «Für das Allerschlimmste. Ich habe einen Menschen getötet.»

    Sieben
    Sieben

    Obwohl ich auf alles gefasst war, schwappte mir der Tee über.
    «Soll ich gehen?», fragte Kalle.
    «Ich weiß nicht», antwortete ich und versuchte vergeblich, den Teefleck mit Haushaltspapier wegzuwischen. Das Tischtuch musste in die Wäsche.
    «Es war Totschlag, ich habe es nicht vorsätzlich getan. Ich bin bei einem Streit dazwischengegangen und habe mit der Brat-pfanne zugeschlagen, die da herumstand. Ich wollte niemanden umbringen, aber …»
    Ich wagte nicht, ihn anzuschauen. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass er seinen Tee austrank und aufstand.
    «Ein Teil der Strafe ist der Blick, der jetzt in Ihren Augen liegt.
    Ihr unbescholtenen Bürger werdet mich nie mehr wie einen von euch behandeln. Damit muss ich leben.»
    Ich dachte an Ari Väätäinens Rasierapparat und wusste, ich hätte Kalle aufhalten müssen, um ihm die Enttäuschung aus dem Gesicht zu wischen. Ich konnte es nicht. Die Tür fiel ins Schloss, er war weg.
    An seiner leeren Teetasse meinte ich noch die Wärme seiner Hände zu spüren. Mir war elend zumute, so vieles bedrückte mich, Kalle, Tiina Leiwo, sogar die morgige Chorprobe. Darum genehmigte ich mir ein Schlafmittel, das die schlimmsten Ge-spenster vertrieb.
    Am nächsten Morgen war es zur Abwechslung ruhig. Ich machte einen kleinen Spaziergang mit Anja Jokinen, fragte sie nach ihrer Arbeit und nach ihren Erinnerungen an Heikki und Kaarlo als Kinder. Kaarlo war früh ausgezogen, um dem trin-kenden Vater zu entkommen, während der jüngere Bruder Heikki ängstlicher war und den Absprung nicht geschafft hatte. Die Welt war immer gegen ihn gewesen: In der Schule hatte man ihn verspottet und gequält, bei der Armee war er schikaniert worden, seine Freundinnen hatten ihn verlassen. Anja grämte sich, weil es ihr nicht gelungen war, ihre Söhne zu anständigen Menschen zu erziehen. Ich versuchte sie davon zu überzeugen, dass nicht sie allein an den Misserfolgen ihrer Kinder schuld war. Das war ungefähr so leicht, wie in Filzpantoffeln einen vereisten Hügel hinaufzugehen.
    Nach dem Mittagessen kam Pauli mit einem Brief in mein Zimmer.
    «Erledige du das, bitte.»
    Der Brief kam von der städtischen

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