Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Lehtolainen, Leena

Titel: Lehtolainen, Leena Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeit zu sterben
Vom Netzwerk:
Ohrclips an. Sie zwickten, sahen aber hübsch aus.
    Ich musste an eine eklige, haarige Raupe denken, die sich vor ihrem Tod in eine Eintagsfliege mit glitzernden Flügeln verwandelt. Sie weiß nicht, dass sie bald sterben muss. Eintagsfliege, Aschenputtel, warum nicht? Wenigstens für einen Abend, oder für ein paar Stunden.
    Kalle stand auf dem Parkplatz neben einem roten Peugeot, der seine besten Jahre lange hinter sich hatte. Er trug eine abgetragene braune Lederjacke, die sein wildromantisches Aussehen betonte. Ich fühlte mich plötzlich in meinem uralten hellblauen Daunenmantel unwohl, der meinem früheren Ich gehörte. Ich setzte einen neuen Wintermantel auf meine imaginäre Einkaufsliste.
    «Sie sind bestimmt überrascht, dass ich ein Auto habe», sagte Kalle stolz und hielt mir die Tür auf. «Es war bei Bekannten un-tergestellt, ich habe es letzte Woche zurückbekommen.» Er klopfte auf das dunkelrote Armaturenbrett, als ob er einen alten Freund begrüßte. «Einen hübschen Lippenstift haben Sie.»
    «Danke», antwortete ich unbeholfen und skeptisch. Wie konnte Kalle im Dunkeln die Farbe meines Lippenstifts erkennen? «Erzählen Sie mir von dem neuen Job.»
    «Genau genommen habe ich meine alte Stelle wiederge-kriegt. Ich fahre einen Bücherbus. Das hatte ich sieben Jahre lang getan, bevor … vor dem Gefängnis. Dort habe ich zuletzt auch in der Bücherei gearbeitet. Das macht mir einfach Spaß.
    Jetzt darf ich den Trolljungen fahren, so heißt die Fahrbücherei für die Schulen. Es ist so schön, all die kleinen Leseratten zu sehen.»
    Wir hielten an einer Ampel, Kalle sah mich an und schmun-zelte. «Ich bin aufgeregt wie ein Kind an Weihnachten. Ich hatte befürchtet, keine Arbeit zu finden, weil ich auf Bewährung drau-
    ßen bin. Jetzt habe ich allmählich das Gefühl, dass mein Leben an diesem verdammten Osterabend neunzehnhundertvierund-neunzig doch nicht zu Ende gegangen ist.»
    Kalle fuhr zügig an, als die Ampel umsprang. Ich wunderte mich, wie unbefangen er von seiner Haftstrafe sprach. Wahrscheinlich blieb ihm nichts anderes übrig. Auf längere Sicht konnte er die Sache nicht verschweigen, wenn er Freundschaf-ten schließen wollte.
    Ich war noch nie im Kino Tuomarila gewesen. Kalle kaufte die Karten und fragte, ob ich Popcorn oder Schokolade wollte, aber ich hatte keinen Appetit. Das Kino befand sich im Gebäude der Freiwilligen Feuerwehr, der früheren Aula, an deren Stirnseite eine Leinwand aufgespannt worden war. Im Saal roch es genauso wie im einzigen Kino meiner Heimatstadt: nach nassen Gummistiefeln, Salmiak und nach den Sehnsüchten, die sich die Zuschauer ein paar Stunden lang erfüllten. Die Sitze waren hart, und als ich die Augen schloss, erinnerte ich mich an die freudige Spannung, mit der ich als Kind ins Kino gegangen war.
    «Aschenputtel», «Schneewittchen», «Dornröschen», ein paar Jahre später «Der weiße Hai» und «Zehn kleine Negerlein».
    Nach «Saturday Night Fever» war ich wochenlang aus dem Häuschen gewesen. Seltsam, dass die Songs jetzt wieder in Mode waren. Ich zog den Mantel aus und stopfte ihn mir als Kissen in den Rücken. Kalles Schultern waren so breit, dass sie meine immer wieder streiften. Wir unterhielten uns über Filme und über das Buch, dessen Verfilmung wir gleich sehen würden.
    Kalle hatte es gelesen, ich nicht.
    «Ich hab’s zu Hause im Regal, ich kann es Ihnen leihen.»
    «Danke. Mal sehen.» Ich genierte mich zuzugeben, dass ich mich selten aufraffte, Romane zu lesen, in denen der finnische Alltag geschildert wurde. Ich wurde Tag für Tag mit der dunkelsten Seite dieses Alltags konfrontiert, deshalb flüchtete ich mich beim Lesen am liebsten in andere Länder und Epochen, in Märchen für Erwachsene, die mir ein anderes Leben vorgaukelten als das, das ich führte. Die «Anständige Tragödie» schien ein Frauenfilm zu sein, denn außer Kalle saßen nur wenig andere Männer im Kino, alle in weiblicher Begleitung.
    Die Gemälde barbusiger Frauen zu Beginn des Films irritier-ten mich, aber schon bald wurde ich von den kräftigen Farben und der getragenen Musik mitgerissen. Es war leicht, die Personen des Films zu verstehen, obwohl ich mich darüber ärgerte, dass Elisabet ihrem betrügerischen Mann verzieh. Die verzwei-felten Bemühungen der Doktorsfamilie, die ehrbare Fassade auf-rechtzuerhalten, erinnerten mich an Tiina Leiwo. Wieder fragte ich mich, ob die Polizei inzwischen wusste, dass ich unmittelbar vor dem Unfall Pasis Handy angerufen

Weitere Kostenlose Bücher