Lehtolainen, Leena
vielleicht selbst schon tot. Nur Säde Vasara versuchte mich daran zu hindern, nach Hause zurückzukehren.
Sowohl die Tatsache, dass ich Opfer familiärer Gewalt wurde, als auch der Unfalltod meines Mannes waren traumatische Er-lebnisse, die mich veranlasst haben, eine Therapie zu beginnen.
Hoffentlich schicken die Mitarbeiter des Schutzhafens ihre Klientinnen in Zukunft lieber zur Behandlung als zurück in die Familienhölle.
Ich hoffe, die Mitarbeiter des Schutzhafens werden ihre Methoden überprüfen, und gehe davon aus, dass der Vorstand der Anna-Hautala-Stiftung sie dazu verpflichtet.
Hochachtungsvoll
Tiina Leiwo
Verteiler: Frauenhaus Schutzhafen, Leiter Pauli Peltola Vorstand der Anna-Hautala-Stiftung
Als ich den Brief durchgelesen hatte, wagte ich eine ganze Weile nicht, aufzusehen. Natürlich freute es mich, dass Tiina meine Auffassung für richtig hielt, aber ich wusste, die Zusammenar-beit mit Pauli würde zumindest nicht leichter werden. Es war ihm am Gesicht abzulesen, dass er nur mit Mühe einen Wutanfall unterdrücken konnte. Ich hatte mehrmals an Familiengesprä-
chen teilgenommen, in denen Pauli gewalttätigen Männern bei-zubringen versucht hatte, wie sie mit einfachen Methoden ihre Selbstbeherrschung bewahren konnten. Offensichtlich setzte er jetzt gerade seine Lehren in die Praxis um.
«Wusstest du davon?», fragte er schließlich.
«Nein. Ich habe mit Tiina Leiwo keinerlei Kontakt gehabt, nachdem sie den Schutzhafen verlassen hat.»
«Natürlich ist sie erschüttert und fühlt sich schuldig am Tod ihres Mannes.» Pauli setzte seine sanfteste Therapeutenstimme ein, mit der er im Allgemeinen auch die abgebrühtesten unter den prügelnden Ehemännern erweichte. «Vielleicht bildet sie sich ein, eine Familientherapie hätte Pasi retten können. Natürlich wird sie jetzt von irgendeiner Männerfeindin behandelt, die ihr einredet, Pasi sei an allem allein schuld. Die Sache wäre nicht weiter ernst, wenn sie ihren Brief nur an uns geschickt hätte.
Aber der Stiftungsvorstand ist mit dem Fall nicht vertraut und könnte uns Schwierigkeiten machen.»
Die Richtlinien für das Frauenhaus Schutzhafen wurden je-weils im Frühjahr auf der Generalversammlung der Stiftung verabschiedet. Tiinas Brief war zum ungünstigsten Zeitpunkt gekommen, denn Pauli musste gleich nach Weihnachten gemeinsam mit dem Vorsitzenden der Stiftung den Arbeitsplan für das nächste Jahr vorbereiten. Pauli und der Vorsitzende, der pen-sionierte Oberpfarrer Aarne Tuomikoski, hatten den Stiftungsvorstand lange als Instrument betrachtet, das die Vorstellungen der beiden Herren brav absegnete. Die letzte Generalversammlung hatte überraschend ein neues Mitglied in den Vorstand ge-wählt, eine «geschwätzige rothaarige Feministenpastorin», so Paulis Urteil über Sanni Voutilainen, die zweite Pastorin der Gemeinde Espoonlahti. Voutilainen stellte Fragen, auf die Pauli keine Antwort geben konnte. Vor ihrem Umzug nach Espoo hatte sie in Joensuu gelebt und dort an der Entwicklung eines neuen, therapeutisch orientierten Frauenhausmodells mitgearbeitet.
Sie war über viele Vorgehensweisen ganz anderer Ansicht als Pauli.
«Ich habe oft genug gesagt, dass wir unsere Klientinnen aktiver auffordern sollten, Anzeige zu erstatten», entgegnete ich. Ich hatte nichts zu verlieren, laut Arbeitsvertrag hatte ich drei Monate Kündigungsfrist. Sollte Pauli mich wegen Insubordination feuern, blieb mir wenigstens Zeit, den Rest meines Lebens so zu gestalten, wie ich es wollte.
Paulis Gesichtsfarbe erinnerte nun an eine voll ausgereifte Tomate. Die Ader über seiner linken Augenbraue pulsierte heftig.
«Solche Fragen sollten in der Mitarbeiterbesprechung erörtert werden und nicht mit den Klientinnen. Nächsten Mittwoch hast du Gelegenheit, deine Kritik zu äußern!»
Der nächste Mittwoch. Das würde wieder einer von den Tagen sein, an denen ich kaum die Kraft aufbrachte, auch nur die notwendigsten Dinge zu erledigen, ganz gewiss kein Tag, um im Alleingang die Richtlinien des Schutzhafens zu verändern. Vielleicht konnte ich Maisa auf meine Seite bringen.
In dem Moment rief Anneli auf dem Flur: «Säde, Telefon für dich! Die Polizei.»
«Stell es in mein Zimmer durch!»
Warum machte sich die Polizei die Mühe, anzurufen und mich vorzuwarnen, anstatt mit heulenden Sirenen und gezückter Waffe anzurücken und mich als mehrfache Mörderin zu ver-haften? Am liebsten wäre ich überhaupt nicht ans Telefon gegangen, aber in mir schien ein
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