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Lehtolainen, Leena

Titel: Lehtolainen, Leena Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeit zu sterben
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griff ich mit der freien Hand nach den Sprossen. Heikki war aufgestanden, im Schein der Warnlampe sah ich sein wutverzerrtes Gesicht und den Fuß, der sich bereit machte, mir das Gesicht zu zertreten.
    «Nicht! Du kriegst die Flasche!»
    Das Entsetzen in meiner Stimme war echt. Ich wusste, was Anja kurz vor einem Schlag empfand, was jede meiner Klientinnen empfand, wenn sie von einem Stärkeren angegriffen wurde. Beim nächsten Aufblinken sah ich den Triumph auf Heikkis Gesicht. Er beugte sich tief herunter, um die Flasche zu nehmen, aber ich zog sie aus seiner Reichweite. Im Dunkeln beugte er sich noch weiter vor und schlug beim Aufstehen mit dem Kopf gegen eine Querstrebe.
    Er schwankte, stieß einen Schrei aus und fiel herunter, ohne dass ich etwas zu tun brauchte.

    Zwölf
    Zwölf

    Eine Weile konnte ich nichts anderes tun, als mich am Geländer festzuhalten und aufzupassen, nicht herunterzufallen. Als das Zittern nachließ, riskierte ich einen Blick nach unten. Auf der grauweißen Erde machte ich ein dunkles Bündel aus, und als die Warnlampe das nächste Mal aufblinkte, sah ich, dass es sich nicht bewegte. Ich steckte die Flasche ein und kletterte ungeschickt die Leiter hinunter. Auf halber Strecke hätte ich mich beinahe in meinem langen Mantel verfangen, mit Mühe unterdrückte ich einen Schrei.
    Heikki Jokinen war auf dem Bauch gelandet. Sein Kopf war merkwürdig verdreht, sodass ein Teil des Gesichts zu sehen war.
    Der Mund und das linke Auge standen offen. Ich zog einen Handschuh aus und hielt die Hand so nah an Heikkis Mund, wie ich konnte, ohne ihn zu berühren. Ich spürte keine Atem-wärme auf meinem Handrücken.
    Dann schnappte ich mir den Rucksack und rannte weg. Etwa hundert Meter lief ich über felsigen Waldboden, bis ich zu einer Wohnstraße kam, die zur Finnoontie führte. Erst dort dachte ich wieder an die Schnapsflasche, die aus meiner Manteltasche her-vorlugte, und versteckte sie schnell im Rucksack. Ich klopfte mir den Schnee ab, kramte die Brille aus dem Rucksack und hoffte, dass niemand aus dem Fenster guckte. In meinem Innern piepste ein bescheidenes Stimmchen, ich sollte sofort die Polizei anrufen. Ich weigerte mich, darauf zu hören.
    Ich wusste nicht, welcher Gedanke schrecklicher war: dass Heikki Jokinen tatsächlich tot war oder dass er wieder zu sich kam und sich erinnerte.

    Auf dem letzten Stück Weg versuchte ich so auszusehen, als käme ich von einer etwas längeren Chorprobe. Der Schneeregen war in richtigen Schnee übergegangen, an der Windseite der Einzäunung für die Mülleimer lag er schon zehn Zentimeter hoch.
    Als ich endlich zu Hause war, sackte ich im Flur zusammen.
    Der Weinkrampf, der mich überfiel, war so heftig, dass ich laut aufheulen musste. Sulo kam besorgt angelaufen, leckte mir übers Gesicht und stupste mich an der Schulter. Erst nach zwanzig Minuten war ich fähig, aufzustehen und den Mantel auszuziehen. Ich knipste den Saunaofen an und ließ Sulo die Nase in den Schneesturm halten. Nach fünf Sekunden hatte er genug davon.
    Ich nahm die Schnapsflasche aus dem Rucksack und kippte den Rest des Inhalts in den Ausguss. Dann spülte ich die Flasche sorgfältig aus und legte sie in einen Topf voll Wasser. Ich wusste nicht viel von DNA-Tests, aber ich stellte mir vor, dass Heikkis Zellen, die vielleicht am Flaschenhals zurückgeblieben waren, durch Auskochen vernichtet würden, ebenso wie Fingerabdrücke. Natürlich würde ich die Flasche in den Glascontainer werfen, aber sie sollte keine Spuren von uns beiden tragen.
    Ich zog mich nackt aus und stopfte alle Kleidungsstücke in die Waschmaschine, bis auf den Pullover, den ich mit der Hand waschen musste. Dann fielen mir die Fasern ein, von denen neuerdings in allen Krimiserien die Rede war. Was hatte Heikki angehabt? Steppjacke, Hose, Lederschuhe und Lederhandschuhe, eine verfilzte Wollmütze – von der waren vielleicht Fäden abgegangen.
    Ich saugte Rucksack, Mantel und Schal sorgfältig ab, dann setzte ich den Staubsaugerbeutel auf die Liste der Dinge, die ich wegwerfen musste. Anschließend hängte ich Mantel und Schal zum Lüften auf die Terrasse, in die äußerste Ecke, wo der Schnee nicht hinkam. Nach kurzem Überlegen stellte ich auch die Win-terstiefel dazu. Wir hatten uns zwar nur einmal berührt, als Heikki mich am Arm gepackt hatte, aber ich fürchtete trotzdem, dass irgendwelche Spuren von mir an ihm zurückgeblieben waren. Und wenn an Heikkis Handschuhen Fasern von meinem roten Mantel entdeckt

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