Lehtolainen, Leena
gerade schwammen. Plötzlich ging Reima unter, ich sprang ins Wasser, das kalt war wie Schnee, und schaffte es, Reima an den Haaren zu packen. Aber als ich versuchte, ihn über Wasser zu halten, verwandelte er sich in Kalle. Ich schaffte es nicht, ihn ans Ufer zu ziehen, gellend rief ich um Hilfe. Am Ufer stand Hauptkommissarin Kallio, sie warf mir ein Seil zu und rief, ich könne Kalle nur retten, wenn ich selbst das Seil losließ und ertrank. «Es tut nicht lange weh!», versicherte sie.
Da wachte ich auf. Es war der Silvestermorgen, stockdunkel, mein Nachthemd war nass geschwitzt. Ich versuchte vergeblich, noch einmal einzuschlafen, ich hatte Abendschicht, und wir mussten wieder mit einer betriebsamen Nacht rechnen. Während einige unserer Klientinnen zu Neujahr von ihren Männern das feierliche Versprechen erhielten, sie würden nie mehr geschlagen, verprügelten andere Männer ihre Partnerinnen zum ersten oder auch zum fünfzehnten Mal. Die Familien hatten über Weihnachten zu Hause gehockt, an Silvester ging man aus und betrank sich. An diesem Abend tranken auch die Frauen, wodurch die Gewalttaten zumindest nicht weniger wurden.
Ich dachte an das Neujahrspicknick, das ich am Weihnachts-abend geplant hatte, und musste weinen. Ich holte mir das Telefon vom Nachttisch ins Bett und wählte Kalles Nummer. Er nahm nicht ab, offenbar hatte er die Nacht in der Zelle verbracht. Vor ein paar Jahren hatte ich die Arrestzellen im Polizeipräsidium von Espoo besichtigt. Die Verschlage hatten eine Flä-
che von wenigen Quadratmetern, das einzige Möbelstück war ein Bett mit einer stinkenden, durchgelegenen Matratze, aber ohne Kissen und Decke, von einem Laken ganz zu schweigen.
Der Betonklotz, der als Tisch diente, war in einem schmutzigen Gelb gestrichen, die Kloschüssel und der Wasserhahn waren aus Aluminium und völlig verbeult. Nach dem Gestank zu urteilen, funktionierte der Abfluss nicht richtig. Das gesetzlich vorge-schriebene Tageslicht fiel durch eine kleine Dachluke, und zum Zeitvertreib konnte man die Kritzeleien früherer Insassen lesen, deren Wortschatz und Rechtschreibung haarsträubend waren.
In so einer Zelle saß Kalle jetzt, dabei hätte ich dorthin gehört.
Sulos Miauen trieb mich aus dem Bett. Schneeflocken schwebten vom Himmel, ein Elsternpärchen schackerte im Wei-dengebüsch. Die Fichtenhecke war von Schnee bedeckt, gleichmütig trugen die Zweige ihre Last. Ich hatte zu unterscheiden gelernt, ob die Zweige vom Wind, von einem Vogel oder einem Eichhörnchen in Bewegung versetzt wurden. Jetzt waren sie völlig regungslos. Es kam mir vor, als wäre für die ganze Welt der letzte Tag angebrochen, dabei ging doch nur ein Jahr zu Ende.
Beim Frühstück überlegte ich wieder einmal, ob ich der Polizei einen anonymen Hinweis zu Heikkis Ermordung geben sollte. Aber was sollte ich nur sagen? Natürlich könnte ich behaupten, ich hätte im gleichen Bus gesessen wie Heikki und einen verdächtigen Kerl gesehen, der ihm folgte. Aber würde die Polizei meinen Hinweis ernst nehmen, wenn ich mich weigerte, meinen Namen zu nennen?
Ich beschloss, Anja anzurufen, mich zu erkundigen, wie es ihr ging, aber so zu tun, als wüsste ich nichts von Kalles Verhaftung.
Ich kämmte mich sorgfältig und zog den roten Pullover an. Das Rot erinnerte mich an das Tuch, das der Matador dem Stier vors Gesicht hält, um ihn zu reizen. Es leuchtete, als ich mich jetzt im Spiegel betrachtete, aber meine Gesichtsfarbe war immer noch so grau wie die Wände meiner Wohnung. Ich legte Puder auf, um mir das Gefühl zu geben, gesünder auszusehen. Dann erst wählte ich Anjas Nummer.
«Guten Morgen, hier ist Säde Vasara. Wie geht es dir?»
«Morgen, Säde! Ach, es ist alles so schwer. Hast du Kaarlo gesehen? Ich habe versucht, ihn anzurufen, aber er meldet sich nicht.»
«Ich habe nichts von ihm gehört.»
«Die Polizei war gestern hier, um über Heikki zu sprechen, und dabei ist mir herausgerutscht, dass wir … Probleme hatten», schluchzte sie.
«Du hast ihnen also erzählt, was Heikki dir angetan hat.»
«Nicht alles. Über Tote sagt man doch nichts Schlechtes. Ich hab vom Schnaps erzählt und dass Heikki mich geschlagen hat, wenn ich ihm kein Geld geben wollte.»
Anja weinte jämmerlich. «Haben sie dir gesagt, woran Heikki gestorben ist?»
Es dauerte eine ganze Weile, bevor sie zu einer Antwort fähig war.
«Sie haben nichts gesagt. Ich hab solche Angst, dass Kaarlo …»
Ohne es zu wollen, hatte Anja ihren älteren Sohn
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