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Lehtolainen, Leena

Titel: Lehtolainen, Leena Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeit zu sterben
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sehen, aber Kalles Gesichtsausdruck verriet mir, welche Gefühle sie in ihm wachriefen. Sein Gesicht sah nie länger als einige Sekunden gleich aus, gerade das machte ihn so attraktiv. Mein Gesicht war nicht so ausdrucksvoll: Das Lächeln war immer gleich schmal, Wut zu zeigen hatte ich nie gelernt.
    Als ich in der Pubertät war, hatte meine Mutter mich davor ge-warnt, nachdenklich die Stirn zu runzeln, damit ich später keine Falten bekäme.
    Ein amüsiertes Lächeln flog über Kalles Gesicht, gleich darauf runzelte er die Stirn und schüttelte den Kopf. Dann ein kurzes Auflachen, er blätterte um und lachte schallend.
    «Sieh mal, das bin ich am ersten Schultag in der Abiturklasse, natürlich schön altmodisch angezogen, wie es sich gehört!» Er hielt mir das Album hin und zeigte auf einen schmächtigen dunkelhaarigen Jungen in zu kurzem Anzug, einen Filzhut tief in die Stirn gezogen.
    «Niedlich. Sind das hier Fotos von der Abiturfeier?» Ich zeigte auf die bunt gekleideten Jugendlichen auf der nächsten Seite.
    «Ja. Wir haben uns als Räuber und Gendarm verkleidet. Ich bin der mit den Handschellen.» Kalles Stimme war plötzlich traurig, und ich verstand auch, warum, als ich die fröhlichen Jungen in grob gestreifter Panzerknacker-Kluft sah, die mit Fuß-
    fesseln aneinander gekettet waren und in die Kamera grinsten, in der glücklichen Gewissheit, dass alles nur ein Spiel war. Kalle blätterte gleich mehrere Seiten weiter, dabei fiel ein Bild heraus, und ich hob es auf. Es zeigte den mittlerweile bärtigen und muskulösen Kalle in Badehose an einem Palmenstrand, eine Bikini-schönheit im Arm, die Mirja auffallend ähnlich sah. Ich gab ihm das Foto, er nahm es kommentarlos entgegen und riss dann die letzte Seite aus dem Album.
    «Die Fotos von Mutters fünfzigstem Geburtstag sind vielleicht nützlich, obwohl Heikki damals viel schlanker war als heute. Ich werde Mutter fragen, ob sie eine bessere Aufnahme hat. Gehen wir?»
    Kalle fuhr betont langsam und hielt immer an, wenn die Ampel Gelb zeigte, als fürchtete er, beim kleinsten Verkehrsdelikt seine Bewährung aufs Spiel zu setzen. Erst als wir vor Anjas Haus anhielten, sagte er:
    «Ich fühl mich so verflucht elend. Ich hab mich immer um Heikki kümmern müssen. Er kam nicht gegen Vater an. Als ich den Alten umgebracht hatte, wirkte Heikki richtig zufrieden.

Wenigstens war er kein Killer …Verdammte Scheiße!»
    Kalle schlug mit den Fäusten auf das Lenkrad. Ich erschrak vor seinem Gesichtsausdruck und öffnete schnell die Tür, aber er packte mich genauso fest am Handgelenk wie Heikki auf dem Sendemast.
    «Säde … Entschuldige. Ich komme jetzt nicht mit zu Mutter.
    Ich muss mich erst beruhigen.»
    Dann ließ er los, und ich konnte aussteigen.
    «Ich rufe an, sobald ich etwas weiß!», rief er mir nach.
    Anja hatte über die Feiertage ein paar Pfund zugenommen.
    Ihr Gesicht sah nicht mehr so verhärmt aus, aber sie war immer noch blass.
    «Wo ist Kaarlo?», fragte sie beunruhigt.
    «Er hatte es eilig, zur Polizei zu kommen. Er will sofort anrufen, wenn er weiß, ob es Heikki ist.»
    In Anjas Wohnung standen ein leuchtend roter Weihnachts-stern und eine weiße Hyazinthe, deren Duft das kleine Zimmer erfüllte und mir Übelkeit bereitete. Vor ein paar Jahren hatte meine Mutter an Weihnachten eine Hyazinthe in mein Zimmer gestellt, und in der Nacht hatte mich eine unbeschreibliche Atemnot befallen, die erst nachließ, als ich die Blume ins Erdgeschoss brachte und mein Zimmer eine halbe Stunde lüftete. Ich fand es traurig, gegen die Blume allergisch zu sein.
    «Möchtest du einkaufen gehen? Ich kann mitkommen.»
    «Sollten wir nicht auf Kaarlos Anruf warten?»
    «Das dauert mindestens eine Stunde, er braucht ja schon zwanzig Minuten für den Weg. Schreib einen Einkaufszettel, dann gehen wir los.»
    Das konnte ich: Frauen bemuttern, denen alles Selbstbewusstsein mit den Fäusten ausgetrieben worden war, und einen Haushalt führen, kochen, Betten machen, Wäsche waschen.
    Anja folgte mir wie ein Mensch, der es gewöhnt ist, sich dem Willen anderer zu unterwerfen. Mechanisch machte sie ihre Einkäufe, aber an der Fleischtheke wurde sie plötzlich munter:
    «Kaufen wir Hackfleisch. Ich mache Frikadellen für Kaarlo.
    Mutters Frikadellen sind sein Lieblingsgericht. Mit viel Zwiebeln … Kaarlo isst gern Zwiebeln, aber Teuvo konnte sie nicht ausstehen. Jetzt kriegt Kaarlo endlich wieder die Frikadellen, die er mag …»
    Der Gedanke beflügelte Anja, wir

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