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Lehtolainen, Leena

Titel: Lehtolainen, Leena Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeit zu sterben
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nicht umgebracht habe. Ich glaube, es ist mir nicht gelungen.»
    Kalle beugte sich zu mir herüber und sah mich inständig an.
    «Dir sage ich es auch: Ich habe Heikki nicht umgebracht. Dass er gewalttätig geworden ist, habe ich ja überhaupt erst erfahren, als er schon verschwunden war. Du glaubst mir doch?»
    «Ja, ich glaube dir», antwortete ich mit belegter Stimme und ging die Teekanne holen, bevor Kalle meine Hand nehmen konnte. «Hat man denn herausgefunden, wie Heikki umgekommen ist?»
    «Sie haben mir überhaupt nichts erzählt. Als ich die Leiche identifizieren musste, habe ich an Heikkis Stirn und am Kinn Prellungen gesehen. Von den Schultern abwärts war er zugedeckt. Vielleicht waren unter der Plane Messerstiche oder Einschüsse. Die Polizei geht von Raub aus, weil Heikkis Brieftasche bisher nicht gefunden wurde. So viel habe ich inzwischen mit-gekriegt.»
    Ich goss uns Tee ein, meine Hände zitterten kein bisschen.
    Kalle war frei. Das hieß, die Polizei hatte keine echten Beweise gegen ihn. Und wenn ich nur deshalb vernommen wurde, weil ich mit Kalle in Heikkis Wohnung gewesen war, hatte ich nichts zu befürchten.
    «Das alles ist ein einziger Albtraum», seufzte Kalle. «Ich hatte schon genug daran zu knabbern, dass Heikki unsere Mutter schlägt, und jetzt ist er obendrein noch tot.» Er trank einen Schluck Tee und verbrannte sich die Zunge, ich holte kaltes Wasser und entschuldigte mich.
    «Ich bin es, der hier um Entschuldigung bitten muss, weil ich einfach bei dir eindringe und alles auf dich ablade», erwiderte er.
    «Ich bin das Zuhören gewöhnt», wiegelte ich ab. Genau genommen war Kalle einer der wenigen, deren Sorgen ich mir freiwillig und interessiert anhörte, nicht aus beruflichen Gründen oder um gemocht zu werden. In der Schulzeit und während des Studiums war ich eine gute Zuhörerin für alle, die an Lie-beskummer litten, weil ich keinen Gegendienst erwartete. Ich hatte keine Liebesbeziehungen. Der eine Kuss vom pickligsten Jungen in unserer Klasse oder die einseitige Schwärmerei für den dunkelhaarigen Leckerbissen im sozialpolitischen Prosemi-nar zählten auf dem Markt der Bekenntnisse nicht.
    «Das habe ich gemerkt. Du könntest ruhig auch mal von dir sprechen.»
    «Über mich gibt es nichts zu sagen.»
    «Das glaube ich nicht.»
    «Glaub es lieber.»
    «Nein. Ich finde, du hast dich verändert. Die Frau, die ich damals im Lokal kennen gelernt habe, war unglaublich scheu.

    Scheu bist du immer noch, aber auf andere Weise. Ich kann ja verstehen, dass du Angst vor mir hast, vor einem, der getötet und im Gefängnis gesessen hat. Mit so einem will niemand sein Leben teilen. Aber dass du mich trotz deiner Angst hier sitzen lässt und behauptest, du glaubst mir, dass ich Heikki nicht umgebracht habe – das kann ich nicht ganz begreifen.»
    Ich trank einen Schluck Tee, um nicht antworten zu müssen.
    Kalle war gefährlich, bald würde er ein Blatt nach dem anderen von mir abreißen wie von einer reifen Artischocke, würde alle meine Geheimnisse aussaugen und meine Seele in Stücke schneiden wie einen weichen Artischockenboden, der nur darauf wartete, verzehrt zu werden.
    Ich fing an zu weinen.
    Kalle starrte mich nur einen Augenblick an, dann beugte er sich vor und strich mir zärtlich über den Rücken. Ich erlaubte mir, die Berührung eine Weile zu genießen, bevor ich ihn fort-stieß. Ich konnte ihm nicht erlauben, meinen Körper in all seiner Hässlichkeit und Erbärmlichkeit zu spüren, von der Erbärmlichkeit meiner Seele ganz zu schweigen. Als ich trotz der Tränen wieder klar sehen konnte, begegnete ich Kalles fassungslosem Blick.
    «Herrgott im Himmel, was ist denn bloß los mit dir!», schrie er so laut, dass es mir vorkam, als hätte er mich geschüttelt.
    Jetzt hätte ich Gelegenheit gehabt, es ihm zu erzählen. Aber ich konnte es nicht.

    Sechzehn
    Sechzehn

    Ich stand im Zentrum von Espoo an der Haltestelle und wartete auf den Bus nach Nihtisilta. Vor Schlafmangel war mein Kopf wie mit Watte gefüllt, meine Augen fühlten sich an, als hätte mir jemand Schlamm unter die Lider gespritzt. Zum Glück war die Wolkendecke so dünn, dass man sich irgendwo dahinter immer noch eine Sonne vorstellen konnte.
    Nach meinem Weinkrampf hatte ich Kalle gebeten zu gehen.
    Er war wütend abgezogen, überzeugt davon, dass ich seinetwe-gen geweint hatte. Zum Teil stimmte das, denn ich trauerte auch, weil Kalle zum allerfalschesten Zeitpunkt in mein Leben getreten war.
    Die Nachtschichten

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