Lehtolainen, Leena
brüchig wie die einer alten Frau. Wie die Stimme meiner Mutter. Mutters Stimme in der Morgendämmerung: »Kalevi, was ist mit dir?« Vater lag in der Stube auf dem Fußboden, aus seinem Kopf quoll es rot und grau.
Meine Wut war nur rot, ich wollte auf Sarvimäki einschlagen.
Mit welchem Recht kam er fast unverletzt davon, während mein Sohn im Sterben lag?
»Mutter, lass uns nach Hause fahren. Ich bleibe über Nacht bei dir«, schlug Katja vor. »Hier können wir doch nichts ausrichten.
Sie rufen uns bestimmt an, wenn es etwas Neues gibt.«
»Das ist sicher das Klügste«, mischte sich der junge Kalmanlehto ein, den unsere Angelegenheiten wahrhaftig nichts angingen. »Soll ich euch ein Taxi bestellen?«
»Das kann ich bezahlen«, erklärte Sarvimäki. Wütend funkelte ich ihn an. Ich wollte weder Almosen noch eine Belohnung dafür, dass mein Sohn seinetwegen sein Leben riskiert hatte.
Während Katja noch einmal nachfragte, wie es um Kaitsu stand, erkundigte sich Sarvimäki nach meiner Telefonnummer, doch ich gab sie ihm nicht. Der junge Kalmanlehto wartete neben dem Taxi.
»Wie kommst du jetzt nach Hause?«, fragte Katja besorgt.
»Mein Bus kommt bald.« Er umarmte sie, was merkwürdig aussah, weil beide gleich groß waren. Dann gab er mir die Hand.
»Es wird alles gut«, sagte er. Ich fragte mich, ob er nicht merkte, wie hohl seine Worte klangen.
»Was hatte der hier zu suchen?«, wandte ich mich an Katja, als wir im Taxi saßen.
»Wir waren zusammen Billard spielen, Pekka, Kode Salama und ich. Kode ist einer von denen, über die ich meine Magisterarbeit geschrieben habe …«, erklärte sie in dem Tonfall, den auch Sara an sich hatte, wenn sie mir unbedingt etwas erzählen musste. Aber ich wollte nichts hören.
Zu Hause legte sich Katja in Kaitsus altem Zimmer ins Bett.
Ich verstand nicht, wie sie in dieser Situation schlafen konnte.
Ich selbst blieb auf dem Sofa sitzen und betrachtete den Schnee, der am Fenster haften blieb. Ob die Straßen glatt waren?
Gegen halb fünf kam ein Anruf aus der Klinik.
»Ihr Sohn ist nicht mehr in Lebensgefahr. Beide Nieren konnten gerettet werden. Das einzige Problem ist sein Rückenmark
… Vorläufig sind seine Beine gelähmt«, berichtete eine Frau, deren mitleidiger Ton mich aufbrachte.
»Was heißt vorläufig?«
»Wir wissen noch nicht, ob es sich um einen bleibenden Schaden handelt. Am Vormittag werden weitere Untersuchun-gen angestellt. Ihr Sohn ist noch in Narkose, er wird voraussichtlich gegen acht Uhr aufwachen.«
»Kann ich ihn dann sehen?«
»Sofern der Arzt es erlaubt.«
Ich setzte Kaffee auf. Kaitsu würde nicht sterben, war aber möglicherweise für immer gelähmt. Wir würden in eine roll-stuhlgerechte Wohnung ziehen müssen, dieses Haus hatte nur einen kleinen Aufzug und zu hohe Schwellen.
Ich brach in lautes Heulen aus. Die Kaffeedose fiel mir aus der Hand und verstreute ihren Inhalt über den Küchenboden.
»Was ist passiert?« Katja kam verschlafen angerannt. Sie hatte Tränensäcke unter den Augen, wie ein junges Mädchen sah sie nicht mehr aus. »Ist Kaitsu …«
»Nein. Er kommt durch«, schluchzte ich.
Katja fasste mich an den Schultern. Umarmungen waren bei uns nicht üblich. Nur Sara stürzte sich bei jeder Gelegenheit auf mich, es war geradezu peinlich. Ich löste mich aus Katjas Griff und holte Kehrblech und Besen aus der Putzkammer im Flur.
Das Kaffeepulver roch unangenehm. Ich beschloss, doch lieber Tee zu kochen.
»Hast du geschlafen?«, fragte Katja.
»Nein.« Ich fegte die Küche und setzte Teewasser auf, während Katja sich mit der Kaffeemaschine abmühte. Ihre zitternden Hände erinnerten mich daran, wie unsicher Vaters Hände jeden Sonntag gewesen waren. Beim Mittagessen hatte er immer Soße verkleckert. Sonntags musste auch hausgebrautes Bier auf dem Tisch stehen, weil es das beste Mittel gegen seinen Nachdurst war. Als Kind dachte ich, Vater hätte einen Samstagsdurst und einen Sonntagsdurst. Der Samstagsdurst war klar und laut, zuerst fröhlich und dann hasserfüllt, der Sonntagsdurst dagegen trüb, still und gereizt.
Der Tee hatte dieselbe Farbe wie Hausbier, ich goss Milch dazu. Katja saß zusammengekauert auf dem Küchenhocker, in einer Haltung, die zu einem Kind gepasst hätte, aber nicht zu einer erwachsenen Frau. Sie hatte aus irgendeinem Schrank ein altes T-Shirt hervorgekramt und als Nachthemd benutzt. Im Vergleich zu ihren mageren Knöcheln und Waden wirkten ihre Füße riesig. Bisher war mir nicht
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