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Lehtolainen, Leena

Titel: Lehtolainen, Leena Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: du hättest vergessen Du dachtest
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begriff ich, welchen Groll ich mit meinen Worten in ihr geweckt hatte, wie verbittert meine Mutter nach all den Jahren immer noch war. Wie hatte ich so mit ihr reden können? Ich verteidigte mich damit, dass auch sie nicht freundlich mit mir umgesprungen war; wenn ich mich weigerte, aufzuräumen, hatte sie mich angebrüllt, meine Kleider seien scheißdreckig und mein Arsch würde vor lauter Faulheit immer fetter, und als ich einmal unter einem trägerlosen Top keinen BH trug, hatte sie verächtlich von meinen »Eutern« gesprochen. In der Pubertät hasste ich nichts so sehr wie das Lied von der besten aller Mütter. Meine Mutter verstand nichts und tröstete mich nie, sondern schrie mich an, ich solle mit dem albernen Gejammer aufhören. Genau dieselben Worte hatte ich von Großmutter gehört, als ich klein war. Diese Kette wollte ich nicht fortsetzen. Ich würde auf keinen Fall ein Kind zur Welt bringen, nur so konnte ich verhindern, dass auch ich solche Worte in den Mund nahm.
    »Bist du sicher, dass Großmutter davon gewusst hat?«, fragte ich Sara, doch das war ein Fehler. Sie wurde stocksauer.
    »Natürlich hat sie es mitgekriegt, in dem kleinen Haus! Die Jungen haben in der Dachkammer geschlafen, Sirkka in der Wohnstube und ich im Elternschlafzimmer, bis Sirkka dann weggezogen ist. Vielleicht hat der Alte mich nachts angefasst, das hat Mutter doch hören müssen. Womöglich hat sie sogar mitgemacht. In meiner Healing-Gruppe ist einer, weißt du, er heißt Einari, und der ist von beiden Pflegeeltern missbraucht worden …«
    Ich bemühte mich, nicht zuzuhören. Stattdessen dachte ich an Musik, zuerst an »It’s a long way back to Germany« von den Ramones und dann an das Lied, das ich für die heutige Gesangsstunde üben musste, »Sommernacht auf dem Kirchhof« von Kuula. Die Stimme, die es sang, war ein weicher Sopran, er mochte Soile Isokoski gehören – mein metallischer Mezzosop-ran war es jedenfalls nicht.
    »Jetzt fang du nicht auch noch an, sie in Schutz zu nehmen und zu behaupten, ich hätte mir alles nur eingebildet«, schrie Sara. Ich ließ sie schreien, in der Hoffnung, sie würde ernsthaft wütend werden und gehen. Vor der Gesangsstunde musste ich unbedingt noch üben. Und einkaufen, denn meine Übelkeit verwandelte sich allmählich in das Hungergefühl, das mich bei jedem Hangover überfiel. Ich hatte Lust auf Pizza, Pommes und sahniges Schokoladeneis. Und auf saure Gurken, die einzige kalorienarme Katermahlzeit.
    Doch Sara wurde nicht wütend, sondern beruhigte sich nach einer Weile. Was man bei ihr Beruhigung nennen konnte, wäre bei Veikko allerdings ein hysterischer Anfall gewesen. Ich hörte ihr noch einige Minuten zu, dann fiel mir endlich eine Ausrede ein:
    »Ich glaube, ich muss jetzt gehen, ich habe nämlich versprochen, um eins im Institut zu sein, um über mein Seminar zu reden.«
    Ich hatte vorgehabt, lediglich mit der Straßenbahn das kurze Stück bis Sörnäinen zu fahren und mit der nächsten Bahn zurückzukommen, doch Sara wollte ins Zentrum, sodass ich sie erst in Hakaniemi loswurde. Dort kaufte ich eine Tüte voll Leckerbissen, fuhr nach Hause, schlug mir den Bauch voll und legte mich ins Bett. Um vier Uhr wachte ich auf, zwei Stunden bevor die Gesangsstunde anfing. Die Sonne stand am Himmel, der Horizont schimmerte verlockend. Ich beschloss, ein neues Leben anzufangen und zu Fuß zur Gesangsstunde zu gehen.
    Bereits beim Einsingen merkte ich, dass der Kater meine Stimme beeinträchtigte. Sie schwamm ein wenig, und alles, was über das hohe F hinausging, musste ich mit Gewalt hervorquet-schen. Bei den Staccatoübungen wollte es mir nicht gelingen, die Stimmritze zu schließen. In all den Jahren hatte ich mich bemüht, nie verkatert zur Gesangsstunde zu erscheinen, und es fast geschafft. Mit den Theorieübungen und Klavierstunden hatte ich es weniger genau genommen.
    »Sommernacht auf dem Kirchhof« reichte hart an die Grenze meines Stimmumfangs und meiner Kräfte: lange Legati, wilde, hohe Töne, die in einen majestätischen Canto münden sollten.
    Beim ersten langen G machte ich schlapp.
    »Das war nichts«, meinte Riitta, meine Gesangslehrerin.
    »Versuchen wir es noch einmal. Denk an das, was du singst, an die Musik und an den Text. Die Töne aneinanderzureihen genügt nicht.«
    Ich versuchte es. Ich gab mir solche Mühe, dass ich ins Schwitzen kam und mir die Stimme im Hals steckenblieb. Beim nächsten Anlauf stellte ich mir vor, bei Nacht in Pielavesi über den Friedhof zu

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