Lehtolainen, Leena
auch deine Kindheit durchforschen müssen, und deshalb frage ich jetzt dich: Hat Vati, ich meine dein Großvater, dich jemals unsittlich berührt?«
Ich konnte ihr nicht ins Gesicht sehen. Ein übler Geschmack stieg mir in den Mund, als hätte ich kalten, feuchten Kaffeesatz direkt aus dem Filter gegessen. Ich erinnerte mich daran, wie ich auf Großvaters Schoß gesessen hatte, an seinen süßlichen Atem und seine warmen Hände, an seine Stimme, wenn er fröhlich sang. Ich erinnerte mich aber auch daran, dass seine Hände manchmal unsicher wurden und deshalb zu fest zupackten, und daran, wie ich mich dagegen wehrte, auf seinem Schoß zu sitzen, wenn er zu schlecht roch.
In meine Strumpfhose waren die Hände jedoch nie geschlüpft.
An so etwas erinnerte ich mich nicht.
Sara wartete meine Antwort gar nicht erst ab. Sie sprach weiter und betonte jedes einzelne Wort, als wäre es in Groß-
buchstaben geschrieben.
»Ständig sind sie mir an den Busen gegangen, alle drei, Vati und Rane und Veikko, haben ihn betatscht und gemessen, wie groß er war. Vati hat ja auch Mutter vor aller Augen begrapscht und ihr sogar am Esstisch die Hand zwischen die Beine geschoben, wenn ihm danach war. Mein Gott, war das ekelhaft! Sei froh, Katjalein, dass dir eine solche Kindheit erspart geblieben ist! Du bist wie ich, auch du zerbrichst an der Hässlichkeit des Lebens. Als ich damals von deiner Bulimie gehört habe, hat es mir fast das Herz gebrochen. Ich verstehe dich, ich hatte dieselben Symptome. Gehst du noch zur Therapie?«
Selbst wenn, hätte ich es ihr nicht gesagt.
»Um Himmels willen, wenn du auch noch gestorben wärst, hätte man mich bestimmt für den Rest meines Lebens in eine geschlossene Anstalt sperren müssen. Das hätte ich nicht ertragen, nach Vati und Rane auch noch unsere kleine Katja, wo doch unsere Mutter jetzt von uns gegangen ist, mir kommen die Tränen …« Plötzlich schlug ihre Stimme um, und sie griff nach meinen Händen. »Versprichst du mir, nie mehr krank zu werden?«
Ich murmelte irgendeine Antwort. Mir war nicht klar, wieso Sara vom Sterben redete, todkrank war ich nämlich nie gewesen.
Selbst die Herzrhythmusstörungen waren keine der schweren Art gewesen, und die Zähne waren mir auch noch nicht ausgefallen. Die Schutzkronen, für die Mutter ihre Ersparnisse geopfert hatte, hatten sie gerettet. Ich hatte lediglich ein paar Kilo abgenommen. Die einzigen äußerlichen Anzeichen meiner Krankheit waren trockene Haut und Haarausfall gewesen.
»Erinnerst du dich, dass Großvater so etwas gemacht hat?«, fragte Sara mitten in ihrem Wortschwall.
»Nein«, antwortete ich so fest ich konnte, doch sie winkte ab.
»Das ist es ja gerade, meine arme kleine Katja! Tante Sara erklärt es dir, pass auf: Du hast die bösen Erinnerungen verdrängt, aber dein Körper hat mit der Bulimie reagiert. Das ist doch vollkommen klar!«
Ihre weiteren Worte glitten an mir ab wie Warenhausmusik, doch ich dachte ernsthaft über ihre Theorie nach. Hatte Rane Sara schützen wollen? War es das Schuldgefühl, das Sara von Sekten zu Therapeuten und von Wunderheilern zu Apothekern trieb?
Das würde so vieles erklären … Vielleicht hatte ich mit meiner Vermutung, Großmutter sei die Mörderin gewesen, völlig falsch gelegen. Sie hatte nicht sich selbst schützen wollen, sondern ihre jüngste Tochter, und sich darauf verlassen, dass man Rane ohne Fingerabdrücke und ohne Geständnis nicht verurteilen würde.
Als der Fall dann vor Gericht kam, war es zu spät, die Aussage zu ändern.
Bei Sara konnte ich mir durchaus vorstellen, dass sie einen anderen für sich ins Gefängnis gehen ließ. Sie wäre ohne weiteres fähig, auch das zu ihren Gunsten auszulegen.
Ich erinnerte mich, wie ich in der Pubertät einmal ausgerastet war, als Veikko und Mutter über Sara schimpften. Veikko war bei uns zu Besuch gewesen, und Mutter hatte über Saras neueste Spinnerei gelästert: Sie hatte die Lehrerausbildung nach einem halben Jahr abgebrochen.
»Warum zieht ihr immer über Sara her!«, hatte ich gebrüllt.
»Sara ist ganz anders als ihr, viel schöner und interessanter und verständnisvoller!«
Mutter hatte Sara wütend davon erzählt, und seitdem hielt meine Tante mich für ihre Verbündete. Jahre später, als ich Mutter fragte, warum sie sich nicht mehr mit Mauri traf, knallte sie mir meine Äußerung von damals ins Gesicht.
»Mauri ist derselben Meinung wie du: Sara ist viel schöner und interessanter und verständnisvoller!«
Da
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