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Lehtolainen, Leena

Titel: Lehtolainen, Leena Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: du hättest vergessen Du dachtest
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gehen, dachte an alle, die dort lagen, an meine Großeltern und Rane, und musste plötzlich weinen. Aus dem Singen wurde nichts mehr.
    »Das ist noch zu schwierig für dich. Wir müssen uns gut überlegen, was wir in dein Repertoire für den Einserkurs aufnehmen. Dieses Lied auf keinen Fall. Für die nächste Stunde übst du es noch einmal, aber heute lassen wir es ruhen und wiederholen stattdessen den Vaccai.«
    Die Etüden empfand ich als wohlverdiente Strafe: Obwohl mir nichts wichtiger war als das Singen, verbaute ich mir alle Möglichkeiten, indem ich meine Gesangstechnik im Alkohol ertränkte.
    Nach der Gesangsstunde war ich so erschöpft, dass ich mit dem Bus zurückfuhr. Zu Hause riss ich als Erstes die Balkontür auf, denn die ganze Wohnung roch nach Pizza. Gierig atmete ich die frische Seeluft ein. Der Ahorn trug bereits mehr rotes als grünes Laub, ein buntgefärbtes Blatt war auf meinem Balkon gelandet. Als ich klein war, hatte ich Mutter bestürmt, mir einen Rock aus Ahornblättern zu nähen, und nicht glauben wollen, dass sie dazu nicht taugten. Zerstreut riss ich das Blatt in Stücke.
    Ich zappte ruhelos durch die Fernsehprogramme und dachte an die langen Stunden, die vor mir lagen, denn nach dem ausge-dehnten Mittagsschlaf war es sinnlos, früh ins Bett zu gehen.
    Plötzlich wurde mir klar, dass ich den verführerischen Alkohol loswerden musste, wenn ich wirklich ein gesünderes Leben führen wollte. Im Schrank standen nur noch die fast leere Schnapsflasche und eine Flasche Bier. Ich goss den Schnapsrest in ein Glas und spülte die Flasche mit etwas Wasser aus, das ich anschließend trank, um jeden Tropfen zu nutzen. Dann machte ich das Licht aus und setzte die Kopfhörer auf. Tuomari Nurmio jaulte in meinen Ohren. Die Platte hatte ich von Karri bekommen, zum zwanzigsten Geburtstag.
    Nach der schriftlichen Abiturprüfung waren wir nach Tampere gefahren. Elina, Karris große Schwester, studierte dort Wirt-schaftswissenschaften, und ihre Wohnung stand über das Wochenende leer. Wir wollten uns zuerst ein paar Kunstausstel-lungen anschauen und anschließend zum Konzert der Gruppe Pojat ins Studentenhaus gehen. Den ganzen Winter über hatten wir nur miteinander geredet und uns kaum berührt. Während alle Mitschüler glaubten, wir gingen miteinander, wagte ich dieses Wort noch nicht zu benutzen. Aber in Tampere würde es endlich passieren, da war ich mir ganz sicher. Dort würden wir endlich ungestört sein. Ich war noch Jungfrau und fürchtete mich. Sollte ich Kondome kaufen?
    Im Zug nach Tampere tranken wir ein Bier und sprachen über unsere Zukunftspläne. Karri wollte Literaturwissenschaft studieren, während er auf eine Zivi-Stelle wartete, ich würde mich für Musikwissenschaft einschreiben. Bevor Karri mich darüber aufklärte, hatte ich nicht einmal gewusst, dass es ein solches Studienfach überhaupt gab. Nebenher würde ich an einer Musikschule eine Gesangsausbildung machen.
    »Und dann beantragen wir beim Studentenwerk eine Famili-enwohnung, die sind leichter zu bekommen als Einzelwohnun-gen«, schlug Karri vor, und mein Herz hüpfte vor Freude. Dass er von einer gemeinsamen Wohnung sprach, bedeutete doch, dass er uns als Paar betrachtete.
    In den Ausstellungen bemühte ich mich, intelligente Bemerkungen zu machen, obwohl ich von bildender Kunst nicht viel verstand. Karris Eltern hatten ihren Sohn von klein auf zu Kulturveranstaltungen mitgenommen, er war zu Malkursen und zur Musikschule gegangen und hatte im Sommer an Lehrgängen für kreatives Schreiben teilgenommen. Seine Familie wohnte strenggenommen gar nicht in Matinkylä, sondern in Iirislahti, einer besseren Gegend. Zum Abitur sollte Karri von seinem Vater ein Auto bekommen. Trotzdem war er seinen Eltern kein bisschen dankbar, sondern fieberte dem Tag entgegen, an dem er ausziehen würde.
    »Ihre Bildung ist nichts als Fassade, total beschissen. Sie sind der Meinung, für akademisch gebildete Menschen mit einem gewissen Einkommen gehöre es sich, ins Theater und in die Oper zu gehen. In Wahrheit machen sie sich gar nichts daraus«, erklärte er großspurig. »Was du als deine dummen Bemerkungen bezeichnest, ist kein bisschen weniger wert als ihre scheinbar sachverständigen Kommentare. Sie hören und sehen nur, aber du bringst selbst etwas hervor. Nur Menschen wie du können wirklich verstehen.«
    Karri ließ sein Lächeln aufblitzen, für das ich mit Freuden einen Fuß hergegeben hätte. Ich hatte Angst. Zum ersten Mal in meinem Leben

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