Lehtolainen, Leena
ans Ende der Welt zu wandern. Er wollte mit mir spazieren gehen, er war bereit, sich im Zug als werdender Vater auszugeben. Vielleicht war noch nicht alles verloren.
An diesen Gedanken klammerte ich mich drei Jahre lang. Auf der Abiturfeier tanzte Karri mit mir und schenkte mir eine seiner Rosen. Er bekam einen Studienplatz und wollte mit mir zusammenleben. Im November bekamen wir dank der Beziehungen seines Vaters eine Wohnung im Stadtteil Kallio, für die seine Eltern die Kaution bezahlten. Wir gründeten einen gemeinsamen Hausstand.
Ich wartete die ganze Zeit darauf, dass Karri etwas anderes in mir sah als seinen besten Kumpel, und versuchte, das Rätsel zu lösen: Warum will er mit mir zusammen sein, begehrt mich aber nicht?
Später habe ich meine alten Tagebücher wieder und wieder gelesen, bis ich sie beinahe auswendig konnte. Ich habe darüber nachgedacht, ob ich alles so aufgeschrieben habe, wie es war, und weiß jetzt, dass ich die schmerzhaftesten Erlebnisse und die schlimmsten Kränkungen ausgelassen habe, zum Beispiel die Geschichte, wie Karri mit einer anderen Frau, mit Pinja Haltiala, ein Wochenende in Stockholm verbrachte. Ich kann mir bis heute keinen anderen Grund dafür denken als den, dass ich dick, hässlich und neurotisch war. Und dennoch liebte ich Karri, wollte ihm alles geben, mich aufopfern, mit ihm eins …
ACHT
Veikko
… werden. Verschmelzen. Sich öffnen. Ekelhafte Wörter, sie lassen mich an die hellrote, schleimige Haut einer Muschel denken, oder an einen Staubsaugerbeutel, der unerwartet platzt und all meinen Dreck auf dem frischgeputzten Fußboden verstreut.
Da ich mit meiner Arbeit nicht weiterkam, machte ich einen Spaziergang in der Dunkelheit. Der Sternenhimmel – auch so ein überstrapaziertes und mit Symbolen befrachtetes armes Würstchen wie die Liebe – sah aus wie ein Sternenhimmel. Ich lag auf Clasus Stoppelfeld und betrachtete ihn. Nach der Getreideernte hatte man von den Feldern wieder freien Blick auf die Nachbarskatzen, die Jagd auf Maulwürfe machten. Die Vogelscheuchen hatten bereits ihr Winterquartier bezogen.
Wie könnte man einem Blinden den Sternenhimmel beschreiben, woher Worte nehmen, die noch nicht abgedroschen und von klebrig-süßen Liedern verfälscht sind? Ich betrachtete das herbstliche Universum und weigerte mich, zu denken, wie klein ich vor dem Weltall sei. Ich sah größer aus als jeder Stern.
Ich habe zu viele Bücher gelesen, die mir erklären, was ich unter einem herbstlichen Sternenhimmel zu empfinden habe. Es ist wichtig, dass ich hier liegen kann, ohne etwas anderes zu hören als das Zirpen der letzten Grillen und das Rauschen des Windes in den Bäumen. Wie widerwärtig, wenn jemand neben mir liegen, das Erlebnis analysieren und mich fragen würde, ob es nicht wundervoll sei. Die Namen der Sterne habe ich schon als Schuljunge gelernt, aber ich habe alle vergessen, die mir nichts bedeuten.
Vor einigen Jahren habe ich an einem skandinavischen Schriftstellerkongress an der Westküste Dänemarks teilgenommen. Damals glaubte ich noch, auf Schriftstellerkongressen jemanden finden zu können, dessen Gesellschaft mir nicht lästig war. Ich wanderte stundenlang am steinigen Atlantikufer entlang. Bei dem kalten, nebligen Wetter war außer mir niemand unterwegs. Ich dachte an die Millionen von Steinen und an die Millionen von Touristen, die an diesem Ufer schon entlangge-gangen waren. Was war ihnen dabei durch den Kopf gegangen?
Natürlich der Standardgedanke: Es ist doch seltsam, dass von diesen unendlich vielen Steinen nicht einer dem anderen gleicht.
Und die nächste Erkenntnis: Die Steine sind so unterschiedlich wie wir Menschen. Bin ich ein schöner Stein, den man vom Strand mitnimmt, um sein Fensterbrett oder den Gartenweg damit zu schmücken?
Auch ich wurde schwach, und nun ziert meinen Schreibtisch ein flacher, rotgrün gemaserter Stein, der mich daran erinnert, dass ich genau so ein Dummkopf bin wie alle anderen. Ich würde gern noch einmal an jenem nebligen Ufer entlangwan-dern. Zu meinem eigenen Strand sind es nur einige Kilometer.
Dort gibt es nur zwei Arten von Steinen, doch die Wellen schlagen an die Felsen, und hier und da ist das offene Meer zu sehen. Die Illusion des Aufbruchs ist immer da.
Das Manuskript habe ich so gut wie fertig, ich müsste wohl nach Helsinki fahren und es meiner Lektorin zeigen. Doch davor scheue ich mich. Es ist bloß eine düstere Geschichte von einsamen Menschen, die einander Schlimmes zufügen.
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