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Lehtolainen, Leena

Titel: Lehtolainen, Leena Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: du hättest vergessen Du dachtest
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reinkommen?«

    Ich hielt ihr die Tür auf, und Sara umarmte mich, bevor sie eintrat. Zum Glück war sie es, die mir einen Besuch abstattete, und nicht Mutter, denn in der Wohnung herrschte ein unbe-schreibliches Durcheinander. Hastig schob ich Ranes Briefe unter das Kopfkissen und strich das Bettzeug glatt.
    »Hast du einen Kater?«, fragte Sara. »Armes Ding. Du solltest mal zu den Anonymen Alkoholikern gehen. Ich habe es auch eine Weile getan, bevor mir klarwurde, dass ich da nicht hingehöre.«
    Sie lachte laut, schrill und ungehemmt, es zerriss mir fast den Kopf. Manchmal war es leicht, sie zum Lachen zu bringen, dann wieder lachte sie monatelang gar nicht. Im Herbst ging es ihr regelmäßig besser als im Frühjahr.
    »Bist du nicht mehr dabei?«, fragte ich und dachte an den Wein, den sie beim Familienessen getrunken hatte.
    »Mit mir ist ein Wunder geschehen, ich kann neuerdings vernünftig mit Alkohol umgehen. Kochst du deiner Tante einen Kaffee?«
    Saras Leben war schon immer voller Wunder und seltsamer Zufälle gewesen. Sie hatte einige Anläufe genommen, ihre Memoiren zu schreiben, aber sie erlebte ständig etwas Neues.
    Bevor sie mit dem ersten Teil ihrer Lebenserinnerungen fertig war, hätte sie bereits mit dem Fortsetzungsband beginnen müssen.
    Sara schälte sich aus ihren Kleiderschichten, schüttelte die Regentropfen aus den Haaren und setzte sich in den Sessel. Ihre Augen umrahmte ein fast zentimeterbreiter violetter Kajalstrich, aber sonst war sie ungeschminkt. Dennoch wusste ich, dass ich viel schlimmer aussah als sie.
    »Hast du gestern auf deinen neuen Job angestoßen?«
    »Ja«, log ich. Die familiäre Nachrichtenzentrale funktionierte offensichtlich bestens. Meine Hände zitterten noch immer, als ich Kaffee in den Filter löffelte, und trotz Postafen war mir speiübel. Saras schweres, süßliches Parfüm drang in jeden Winkel meiner kleinen Einzimmerwohnung. Ich öffnete die Balkontür.
    »Du bist wie ich, du brauchst einen Ausblick«, meinte Sara zufrieden. Von ihrem Fenster aus sah man den Vergnügungs-park, und gelegentlich hatten wir zum Spaß mit dem Fernglas die Gesichter der Leute studiert, die in den Gondeln des Riesen-rads saßen.
    »Hast du Kuchen oder Kekse da?«, fragte Sara, als ich ihr die Kaffeetasse vorsetzte. Sie war ein Süßschnabel. Ich verneinte und ging unter die Dusche, obwohl ich Sara wegen Ranes Briefen ungern aus den Augen ließ. Sie hatte keine Skrupel, in die Schränke zu schauen und in meinen Tagebüchern zu lesen, wenn ihr danach war. Also duschte ich so schnell wie möglich und nahm bei der Gelegenheit noch eine Kopfschmerztablette und zwei Pillen gegen Sodbrennen.
    »Katjalein, ich muss unbedingt mit dir sprechen«, begann Sara, als ich mich danach zu ihr setzte. »Sirkka will mir nicht zuhören, und außer ihr bist du die einzige Frau, mit der ich gemeinsame Erinnerungen habe. Immerhin sind wir beinahe Schwestern.«
    »Ja«, sagte ich zögernd und machte mich auf eine Predigt über meinen Alkoholkonsum gefasst, doch natürlich ging es nicht um mich. Die einzigen Angelegenheiten, für die sich Sara interessierte, waren ihre eigenen.
    »Weißt du, ich habe lange darüber nachgedacht und bin jetzt ganz sicher, dass Vati mich sexuell missbraucht hat. Dein Großvater. Denk doch bloß, wie furchtbar! Wie konnte er nur!
    Und Mutter hat es gewusst, aber nichts unternommen! Veikko und Sirkka halten sie für eine Heilige, aber sie wissen natürlich nicht alles.«
    Sara verfügte über hundert verschiedene Stimmen, passend zu jedem Anlass. Sie hätte Rezitatorin werden oder bei Hörspielen mitwirken sollen. Beim Singen hatte ich oft versucht, die Stimmfärbung zu variieren wie sie, doch es war mir nie gelungen. Meine Stimme behielt ihren metallischen Grundton, ob ich nun Schubert, Dylan oder meine eigenen Lieder sang. Als Sara weitersprach, wurden ihre Augen groß und rund, während ihre Stirn sich in Falten legte; es war, als ob in ihrem Gesicht ein kleines Kind und eine nicht mehr ganz junge Frau miteinander rangen.
    »Das Problem ist nur, dass ich keine klare Erinnerung daran habe, aber wenn ich versuche, mir diese Vorfälle auszumalen, kommen Gefühle und Gerüche hoch. Das ist ja gerade typisch, man verdrängt beklemmende Erinnerungen. Ich habe mir überlegt, dass es passiert sein muss, als ich noch ziemlich klein war. Ist es nicht schrecklich, zu welcher Detektivarbeit man gezwungen ist, um sein eigenes Leben zu erkennen? Du hast doch wegen deiner Bulimie bestimmt

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